halloherne.de lokal, aktuell, online.
Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen) schauen sich beim romantischen ersten Date im Kino ausgerechnet einen Zombie-Film an.

„Fallende Blätter“ neu im Kino

Aki Kaurismäki tritt vom Rücktritt zurück

Ansa (Alma Pöysti) ist Kassiererin im Supermarkt, die aber auch Regale einräumt und sonst nach dem Rechten sieht. Darin eher argwöhnisch denn wohlwollend beobachtet von dem Sicherheitsmann der Filiale. Nach Feierabend wartet die allabendliche Tristesse daheim auf die nicht mehr ganz junge Frau: Mikrowelle, Radionachrichten vom Ukraine-Krieg.

Schnitt. Holappa (Jussi Vatanen) schuftet am Bau, eine nicht nur körperlich schwere Arbeit: der durch einen Hochdruckreiniger aufgewirbelte Staub dürfte für seine Lunge schädlich sein. Sein Kollege Huotari (Janne Hyytiäinen), mit dem er sich in der Baubaracke eine Zweibett-Koje teilt, muss ihn ziemlich bearbeiten, bis er ihn zum Karaoke-Abend begleitet. Denn eigentlich liebt Holappa die Einsamkeit. Und singt dann in der Bar mitten in Helsinki keinen melancholischen finnischen Tango wie sein Kollege, sondern Franz Schuberts Serenade „Leise flehen meine Lieder“ auf Deutsch!

Ansa erwischt jemanden beim Containern abgelaufener Lebensmittel, was nicht nur in Deutschland, sondern offenbar auch in Finnland skandalöserweise ein Straftatbestand ist. Als sie den Diebstahl nicht anzeigt, sondern selbst etwas einsteckt, wird sie vom Supermarkt-Leiter, der sich selbst mit schrägen Geschäften bereichert, fristlos entlassen. Was ihre empathische Kollegin und Freundin Liisa (Nuppu Koivo) nicht verhindern kann, ohne ihren Job aufs Spiel zu setzen. Erbsenzählende Arschlöcher gibt es auch bei Holappa auf dem Bau, der freilich unabhängig davon mit einem erheblichen Alkoholproblem zu kämpfen hat. Dennoch haben sich zwei verwandte Seelen getroffen in der unerklärten Hoffnung, ihr Single-Dasein demnächst beenden zu können.

Freitagabend in der Karaoke-Bar: Ansa (Alma Pöysti) und ihre Freundin Liisa (Nuppu Koivu), die an Holappas Arbeitskollegen Huotari (Janne Hyytiäinen) Gefallen findet.

Der erste Kinobesuch gilt ausgerechnet einem Zombie-Streifen, freilich einem von Jim Jarmusch aus dem Jahr 2019, der eigentlich eine Komödie ist: „The Dead don’t die“. Und Ansa mächtig amüsiert. Weil Holappa, als Kettenraucher, den in die Hosentasche gesteckten Zettel mit ihrer Telefonnummer verliert und beide weder Namen noch Adresse des jeweils anderen wissen, schauen sie zwar regelmäßig in der Karaoke-Bar und beim Vorort-Kino vorbei, verpassen sich aber immer wieder. Ansa hat daheim inzwischen ihren Strom abgestellt, muss bald auch auf die halbe Stunde Computer-Nutzung im Internetcafé verzichten, obwohl der Kaffee gut und im Preis von zehn Euro inbegriffen ist.

Nachdem Holappa nach einem vom Arbeitgeber verschuldeten Unfall fristlos entlassen worden ist, jobbt er als erheblich schlechter bezahlter Hilfsarbeiter auf dem Bau. Ansa hat als Frau unter lauter Männern eine neue Arbeit – in einem Stahlwerk! Beide kommen endlich wieder in der Karaoke-Bar zusammen, als das schräge Fin-Pop-Duo Mausetytöt (Anna und Kaisa Karjalainen) noch schrägere Texte zu Gitarre und Keyboard singt. Doch noch steht eine gemeinsame Zukunft wie bei Liisa und Huotari in den Sternen, als Holappa von einer Straßenbahn überfahren und in der Klinik in künstliches Koma versetzt wird. Ansa kommt samt Vierbeiner Chaplin vorbei, um ihm am Krankenbett aus Illustrierten vorzulesen…

Nach „Schatten im Paradies“ (1986), „Abgebrannt in Helsinki“ (1988) und „Das Mädchen aus der Streichholzfabrik“ (1990) ist „Fallende Blätter“ der vierte Teil einer als Trilogie geplanten Proletarier-Reihe von Aki Kaurismäki. Der mit seiner wundervoll lakonischen Liebesgeschichte einen Rücktritt vom Rücktritt vollzogen hat: Eigentlich wollte der Regisseur nach dem 2017 auf der Berlinale aufgeführten Film „Die andere Seite der Hoffnung“ mit damals 59 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand treten. Zum Glück für uns kommt Kaurismäkis 81-minütige Verbeugung vor seinen „Göttern“ Bresson, Ozu und Chaplin, am 22. Mai 2023 in Cannes uraufgeführt und mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, am 14. September 2023 in unsere Kinos. Zu sehen im Casablanca Bochum, Roxy Dortmund, Eulenspiegel Essen und Atelier Düsseldorf sowie in der OmU-Fassung im Capitol Bochum.

Dienstag, 12. September 2023 | Quelle: Pitt Herrmann