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Marie (Deirdre Angenent) und Wozzeck (Heiko Trinsinger, Mitte) umgeben von den drei Narren (Bettina Ranch, l., Jonas Onny und Katharina Brehl, r.)

Drei Narren und ein Joker-Tambourmajor

Alban Bergs „Wozzeck“ in Essen

„Woyzeck“, die Fragment gebliebene Tragödie Georg Büchners, 1836 geschrieben und erst 1913 posthum am Münchner Residenztheater uraufgeführt, hat mit Johann Christian Woyzeck (1780 – 1824), der seine Geliebte umgebrachte und hingerichtet wurde, ein historisches Vorbild, von dem aber wenig authentisches Material vorhanden ist. Eine Seite mit letzten Notizen stammt nicht gesichert von seiner Hand – und zwei ärztliche Gutachten scheinen im Nachhinein geglättet worden zu sein. Büchner kannte das in Henkes Zeitschrift für die Staatsarzneikunde abgedruckte gerichtsmedizinische Gutachten des Hofrats Clarus vermutlich aus der väterlichen Bibliothek.

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Es hat mehrere Vertonungen des Büchner-Fragments gegeben, aber nur Alban Bergs 1923 geschriebene Oper hat sich im Repertoire durchsetzen können, nach vertraglichen Streitigkeiten mit dem Oldenburgischen Staatstheater 1925 an der Deutschen Staatsoper Berlin uraufgeführt. Ein halbes Jahr später kam Manfred Gurlitts Oper „Wozzeck“ heraus, 1949 eine Opernballade gleichen Namens von G. Pfister.

Die Welt zum Gegner

Marie (Deirdre Angenent und Wozzeck (Heiko Trinsinger) mit dem Joker-Gruselface des Video-Tambourmajors (Raphael Baronner).

„Wozzeck“ handelt vom Leidensweg eines in ausbeuterischen, prekären Verhältnissen lebenden Menschen, der die Welt zum Gegner hat. Der, zum medizinischen Versuchsobjekt erniedrigt, von seiner Braut Marie betrogen und vom zynischen Tambourmajor übervorteilt, ist außerstande, sein Schicksal zu begreifen. So wird die an ihrer aussichtslosen Situation verzweifelnde, von Wahnvorstellungen geplagte Kreatur zum Mörder an der Mutter seines Kindes und ertränkt sich schließlich selbst.

Auch heute, so der Regisseur der Essener Neuproduktion, Martin G. Berger, im Programmheft, geht uns die dreiaktige Oper etwas an: Vereinsamung, Kapitalismus und Leistungsdruck lassen Individuen zerbrechen und beschwören fatale Ereignisse hervor. Der u.a. mit dem Bühnen-Oscar „Der Faust“, mit dem Deutschen Musical- und dem Orpheus-Preis ausgezeichnete gebürtige Berliner des Jahrgangs 1987 hat den beiden Protagonisten Wozzeck (umjubeltes Rollendebüt des Aalto-Baritons Heiko Trinsinger) und Marie (die niederländische Aalto-Theaterpreis-Trägerin Deirdre Angenent) drei Narren an die Seite gestellt.

Selbst zum Narr werden

Sie offerieren Wozzeck eine Alternative zum blutigen Finale: statt zum (Selbst-) Mörder lieber selbst zum Narr werden. Weshalb am Ende nach knapp zwei pausenlosen Stunden die bürgerliche Kleinfamilie wie im Prolog friedlich vereint vor dem Flachbildschirm sitzt, einem Smart-TV mit Daddel-Potential für den Nachwuchs (Michael Matrosov als beider Kind). Dieses Schellenkappen-Trio wird gebildet aus der Schauspielerin Katharina Brehl vom Staatstheater Kassel, dem Tänzer Jonas Onny, einem Folkwang-Absolventen, sowie der Aalto-Sängerin Bettina Ranch. Sie steuert in dieser Rolle von Regisseur Berger ergänzte expressionistische Gedichte aus der Entstehungszeit der Oper sowie Auszüge aus Alban Bergs „Sieben frühen Liedern“ vor und überzeugt zudem in der Mezzo-Partie der Margret.

Die Narren, so der ausführlich nachzulesende Regieansatz Bergers, sollen Wozzeck dazu bringen, die Abgründe seiner Peiniger Tambourmajor (Rodrigo Porras Garulo), Hauptmann (Torsten Hofmann) und Doktor (Sebastian Pilgrim) als solche zu erkennen, sich mit Marie zu solidarisieren „und sich gegen die perverse kapitalistische und klassistische Logik zu wenden.“ Als Germanist und Kunsthistoriker kannte ich bisher nur den Begriff „Klassizismus“, habe nun, Wikipedia sei gedankt, dazugelernt: Unter „Klassismus“ ist die demütigende Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen aufgrund ihres vermuteten oder wirklichen sozialen Status zu verstehen, welcher die gesellschaftliche Partizipation von bestimmten Gruppen behindert.

Junges künstlerisches Team

Für die musikalische Leitung der Oper „Wozzeck“, die als erstes abendfüllendes Bühnenwerk der Atonalität gilt, konnte mit Roland Kluttig ein ausgewiesener Experte für Musiktheaterstücke des 20. Jahrhunderts gewonnen werden. Der 1968 im sächsischen Radeberg geborene Chefdirigent der Oper Graz und aktuell Erster Gastdirigent der schwedischen Wermland Opera, arbeitet den ganzen Facettenreichtum der expressiven Komposition Alban Bergs heraus. Welche die Sänger-Darsteller in ihrem steten Wechsel zwischen Sprache, rhythmischer Deklamation und ariosen Anklängen vor einige Herausforderungen stellt.

Zum jungen künstlerischen Team dieser so spektakulären wie spekulativen Mammutproduktion samt Opern- und Kinderchor, das sich erstmals im Aalto präsentierte und am Premierenabend des 25. Mai 2024 einhelligen Beifall erhielt, gehören auch Sarah-Katharina Karl, mehrfache „Bühnenbildnerin des Jahres“ in der „Opernwelt“, mit Anklängen an Charlie Chaplins Film-Klassiker „Modern Times“, Esther Bialas, mehrfache „Kostümbildnerin des Jahres“ des Schauspiel-Schwestermagazins „Theater heute“, sowie die Videodesignerin Tabea Rothfuchs, die Raphael Baronner als Tambourmajor in Joker-Gruselface auf die Riesenleinwand gebannt hat.

Die weiteren Vorstellungen in dieser Spielzeit

  • Freitag, 31. Mai 2024, 19:30 Uhr
  • Donnerstag 6. Juni 2024, 19:30 Uhr
  • Sonntag, 23. Juni 2024, 18 Uhr
  • Donnerstag, 27. Juni 2024, 19:30 Uhr
  • Samstag, 6. Juli 2024, 18 Uhr mit Nachgespräch in der Aalto-Cafeteria
  • Einführung jeweils 45 Minuten vor den Vorstellungen
  • Montag, 10. Juni 2024, 19:30 Uhr, Szenischer Abend „Blaue Stunde“ zu „Wozzeck“
  • Wiederaufnahme am 21. September 2024

Karten

Karten (11 bis 55 Euro) sind erhältlich online unter theater-essen.de, im Ticket-Center in der City (II. Hagen 2), an der Kasse des Aalto-Theaters, Opernplatz 10, sowie unter Tel. 0201 - 81 22 200.

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  • Freitag, 31. Mai 2024, um 19:30 Uhr
  • Donnerstag, 6. Juni 2024, um 19:30 Uhr
  • Montag, 10. Juni 2024, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 23. Juni 2024, um 18 Uhr
  • Donnerstag, 27. Juni 2024, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 6. Juli 2024, um 18 Uhr
Sonntag, 26. Mai 2024 | Autor: Pitt Herrmann