
Anouilh-Klassiker am WLT
Anarchische Antigone
Der als „Sieben gegen Theben“ in die Geschichte eingegangene Krieg um den von Ödipus verlassenen Thron ist vorbei. Dessen beiden Söhne Polyneikes und Eteokles sollten abwechselnd herrschen, womit Ersterer nicht einverstanden war. Als Verbannter führte er einen Krieg gegen Eteokles – und im Kampf vor den Toren der Stadt erschlugen sich die Brüder gegenseitig. Zurück blieben ihre Schwestern Antigone und Ismene, deren Onkel Kreon nun der neue Herrscher über Theben geworden ist. Der verfügt, dass Eteokles als Verteidiger der Stadt mit einem Staatsbegräbnis geehrt wird, während Polyneikes’ Leichnam nicht bestattet werden darf.
Bei Sophokles, dessen Tragödie „Antigone“ wahrscheinlich 442 vor Christus in Athen uraufgeführt worden ist, widersetzt sich die Titelheldin dem königlichen Befehl, weil dieser dem göttlichen Gesetz widerspricht, nachdem nur ein ordentlich Bestatteter ins Totenreich einzieht. Der 2.500 Jahre alte Stoff über den unauflösbar scheinenden Konflikt zwischen göttlichem und menschlichem Gesetz, zwischen gesellschaftlicher Ordnung und zivilem Ungehorsam ist von zahlreichen Autoren des 20. Jahrhunderts bearbeitet worden, so auch von Jean Anouilh.

In seiner 1942 geschriebenen und im Februar 1944 noch unter deutscher Besatzung in Paris uraufgeführten Fassung, welche das Figurenarsenal um eine auch kommentierende Sprecher-Rolle ergänzt und die Handlung in die Gegenwart verlegt, ist Antigones Opfergang samt tödlicher Folge für ihren Verlobten Hämon sinnlos: Zum einen fällt die religiöse Motivation fort, zum anderen ist Kreon kein bewusst über Leichen gehender Tyrann, sondern ein pragmatischer Herrscher, der aus Gründen der Machterhaltung nur die öffentliche Wirkung seines Handelns im Blick hat.
Das Westfälische Landestheater hat Anouilhs durchaus ambivalentes Sinnbild für den französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung, der französische Autor war Anhänger Pétains und seines mit den Deutschen kollaborierenden Vichy-Regimes, nun zum Ausgangspunkt einer quicklebendig-anarchischen Tragikomödie unserer Tage für alle ab 15 Jahren gemacht. In der minimalistischen Ausstattung von Philipp Kiefer feierte sie jetzt im Castrop-Rauxeler WLT-Studio eine heftig umjubelte Premiere. Dem Rotstift zum Opfer gefallen sind Eurydike und die Amme, der nun auf mehrere Personen verteilte umfangreiche Sprecher-Part wurde ebenso stark eingedampft wie die Gespräche der Wächter (Mark Plewe und Vincent Bermel). Was Sinn macht, steht deren Alltags-Banalität bei Anouilh doch im bewussten Gegensatz zur obsolet gewordenen Heldenwelt der Antike samt ihrer pathetischen Ausdrucksweise.
Antigone (Thyra Uhde) und Ismene (Luisa Cichosch) sind in der temporeichen Inszenierung Karin Epplers zwei junge, lebensfrohe Frauen unserer Tage, Erstere stark politisch interessiert, während ihre jüngere Schwester vor allem auf ihr Äußeres bedacht ist. Religiöse Motive spielen bei Antigone keine Rolle, als sie sich ihrem Onkel Kreon (Regieassistentin und Abendspielleiterin Anne Noack) widersetzt und mehrfach versucht, ihren Bruder Polyneikes zu bestatten. Der sei, so Kreon, ein ebensolcher Gauner wie Eteokles, welcher aus rein propagandistischen Gründen ein Staatsbegräbnis erhalten habe.
„Ich werde mich gegen die Welt stellen“: Antigone hat in ihrer Radikalität und ihrer Unerbittlichkeit auch gegen sich selbst, freilich auch in ihrem arg begrenzten Erfolg etwas von heutigen Ikonen der Protestbewegung wie Greta Thunberg. Mit pragmatischer Politik, wie sie Kreon vertritt, kann sie nichts anfangen. Und lehnt Kompromisse ganz generell ab: „Ich will alles. Und sofort!“ Am bitteren Ende hat sie ihren Verlobten, den Königssohn Hämon (Chris Carsten Rohmann), mit in den Tod gezogen, obwohl sie ihm zuvor gebeichtet hat, gar nicht mehr zu wissen, wofür sie ihr junges Leben opfert. Karin Eppler und ihre Dramaturgin Sabrina Klose konterkarieren diesen Pessimismus freilich mit einer grandiosen Schlusspointe, die hier naturgemäß nicht gespoilert wird…
Karin Eppler über ihr Regiekonzept: „In ‚Antigone‘ zeigen sich Problemstellungen, die auch in unserer heutigen Gesellschaft noch nicht bewältigt sind wie die Themen Impfung oder der Umgang mit Flüchtlingen und der Klimakrise. Dann hat uns der Krieg in der Ukraine als Team überrascht und unsere Arbeit an ‚Antigone‘ noch einmal in ein anderes Licht gestellt. Wir haben uns schon früh dafür entschieden, uns mit Punk und Punkbands zu beschäftigen. Bei den Frauenpunkbands kommen viele aus Russland und sind politisch sehr aktiv. Beim Punk geht es darum, dass ein Einzelner eine andere Haltung einnimmt und das mithilfe von Musik zum Ausdruck bringt. In ‚Antigone‘ zeigt sich derselbe Konflikt.“
Die nächsten bisher bekannten Aufführungen in unserer Region finden erst am 9. und 10. November 2022 in der Stadthalle am Europaplatz in Castrop-Rauxel statt, was sich nach diesem fulminanten Publikumserfolg freilich noch ändern kann.