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Skeptischer Blick: Annie Ernaux‘ (li.) mit Sohn David in die Kamera ihres Gatten Philippe beim Wintersport in der Savoyer Alpen.

Private Bilder der Literatur-Nobelpreisträgerin

Annie Ernaux - Die Super-8-Jahre

Im Winter 1972 kaufen sich die in Annecy als Lehrerin tätige aufstrebende französische Schriftstellerin Annie Ernaux und ihr Ehemann Philippe eine Super-8-Kamera, die in der Folge, während neun Jahren bis 1981, ihr privates Leben in häufig unscharfen, verwackelten und grobkörnigen Bildern aufzeichnen wird. Nicht nur Szenen einer jungen Familie, sondern auch in den 1970er Jahren aufkommende Bildungsreisen werden dokumentiert. Die überzeugte Sozialistin, die es vom Arbeiterkind zur promovierten Akademikerin gebracht hat, zieht es an politisch außergewöhnliche Orte.

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Organisiert von der Tageszeitung „Le Nouvel observateur“ ist das Chile Salvador Allendes und seiner „Unidad Popular“ das erste Ziel. Ein Besuch in der deutschen Partnerstadt Bayreuth zu den Wagner-Festspielen wird zu einer Reise in ein wieder befriedetes Deutschland ein Jahr nach den RAF-Terroranschlägen. Das von der Außenwelt abgeschottete Albanien des antisowjetischen Maoisten Enver Hoxha ist für die Linksintellektuelle Annie Ernaux als Teil einer rund um die Uhr bewachten achtköpfigen Gruppe ebenso desillusionierend wie das verlängerte Wochenende in der von ihr als sehr heruntergekommen empfundenen sowjetischen Hauptstadt Moskau: Ganze Häuserzeilen als Ruinen und leere Regale in den Geschäften.

Erste Risse in der Ehe

1975 zieht die Familie von Annecy nach Cergy-Pontoise an die Peripherie von Paris. Hier wächst der Sohn David auf, heute ein erfolgreicher Wissenschaftsjournalist. Anfang der 1980er Jahre im Spanien-Urlaub zeigen sich erste Risse in der Ehe, nach einem Portugal-Urlaub lassen sich Philippe und Annie scheiden. 1983 gelingt ihr mit dem vierten Buch „Der Platz“ der internationale Durchbruch. Die am 23. Mai 2022 beim Int. Filmfestival in Cannes uraufgeführte Dokumentation „Annie Ernaux – Les années Super-8“ nimmt vielfach Bezug auf dessen Entstehung, die nicht nur den Bruch der Autorin mit ihrer Kindheit, sondern auch die Emanzipation von ihrem Gatten umfasst.

Annie Ernaux als junge Frau, die am Anfang noch von der Kamera ihres Mannes beim verschämten Schreiben ertappt wird, weil sie als junge Mutter und Lehrerin andere Pflichten hat, als ihren Weg als Schriftstellerin zu suchen.

Annie Ernaux, Autorin von rund zwanzig Romanen und Erzählungen, im Dezember 2022 in Stockholm mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet, wird von vielen als die wichtigste literarische Stimme Frankreichs angesehen. In jüngerer Zeit wurden zwei ihrer Bücher zu preisgekrönten Filmen verarbeitet: „Eine vollkommene Leidenschaft“ von Danielle Abrid (Cannes 2020) und „Das Ereignis“ von Audrey Diwan (Goldener Löwe von Venedig 2021). In ihrem ersten eigenen Film zeigt uns die über 80-Jährige zusammen mit ihrem Sohn David binnen einer guten Stunde ihren „avant text“ zur Entstehung ihrer literarischen Arbeiten.

Bilder eigentlich für die Familie gedacht

„Das Tagebuch hilft, über Selbst-Lügen erzählen zu können“: Die von der Autorin verfassten und von ihr selbst als Voice-over gelesenen Texte schaffen eine kritische Distanz zu den eigentlich nur für die Familie gedachten Bildern, die zu 95 Prozent von ihrem Gatten Philippe stammen. Ihr Lektor Clément Pinteaux und Koregisseur David Ernaux-Briot haben dafür eine Struktur geschaffen, die zwischen Momenten, in denen Annie Ernaux‘ Text mit den Bildern übereinstimmt und das Gezeigte auch erklärt, und ihre Familie, Ehe, gesellschaftliche Konventionen und die Stellung der Frau hinterfragenden Reflexionen unterteilt. Diese enthüllen eine unsichtbare, aber in den Bildern enthaltene Wahrheit, welche den Betrachter bisweilen aufschrecken lässt.

Annie Ernaux im Film-Kino-Text-Presseheft: „Bei der erneuten Sichtung unserer Super-8-Filme, die zwischen 1972 und 1981 gedreht wurden, kam mir der Gedanke, dass sie nicht nur ein Familienarchiv, sondern auch ein Zeugnis für die Zeit, den Lebensstil und die Bestrebungen einer Gesellschaftsschicht im Jahrzehnt nach 1968 darstellen. Ich wollte diese stillen Bilder in eine Geschichte einbinden, die die Vertrautheit mit dem Sozialen und der Geschichte kombiniert, um den Geschmack und die Farben dieser Jahre zu vermitteln.“

„Annie Ernaux - Die Super-8-Jahre“ kommt am Donnerstag, 29. Dezember 2022, in die deutschen Kinos, in unserer Region zu sehen im Casablanca Bochum, im Sweetsixteen Dortmund und im Essener Filmstudio Glückauf.

Dienstag, 27. Dezember 2022 | Autor: Pitt Herrmann