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Bundesligaschiedsrichter Deniz Aytekin war am Dienstag (15.8.2023) zu Gast beim

Deniz Aytekin über Druck und Entscheidungen im Fußball

Aus dem Nähkästchen eines Bundesliga-Schiris

Normalerweise ist er auf den Fußballplätzen in der Bundesliga zu finden, am Dienstag (15.8.2023) fand er den Weg ins Veranstaltungszentrum Gysenberg: Deutschlands Top-Schiedsrichter Deniz Aytekin kam auf Einladung von Reifen Stiebling, um zusammen mit Ex-FIFA-Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer beim Bundesliga-Talk dabei zu sein. Dabei hielt Aytekin einen Vortrag, in dem er besonders auf Druck- und Entscheidungssituationen einging - diese gelten nicht nur für den Fußball.

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Drei Stunden lang dauerte die komplette Veranstaltung für rund 60 geladene Gäste, darunter auch Oberbürgermeister Dr. Frank Dudda sowie Stadtkämmerer Dr. Hans Werner Klee. Nach dem Vortrag und einem kleinen Imbiss gab es noch eine längere Fragerunde, bei der zunächst Kinhöfer seinen früheren Bundesligakollegen mit Fragen löcherte und Anekdoten sowie Fotos hervorholte, bevor auch das Publikum durfte. Vor Ort waren viele Geschäftsleute, die durch den 45-Jährigen sicherlich einige Impulse mit in die eigene Firma mitnehmen konnten.

Verantwortung übernehmen - egal wo

Ein Beispiel: Verantwortung übernehmen. Das macht der gebürtige Nürnberger beispielsweise, wenn es im Spiel eine schwierige Entscheidung zu treffen gilt. Dann wird er von seinen Assistenten und dem vierten Offiziellen unterstützt, die ihm manchmal den entscheidenden Impuls für Foul oder weiterspielen geben. Wenn sich dies im Nachgang aber als strittig und möglicherweise falsch herausstellt und in den Medien hochgekocht wird, haut der Unparteiische dann nicht seine Assistenten in die Pfanne, sondern erläutert „seine“ Entscheidung.

„Das ist wie in einem Unternehmen. Ich stehe zu meinen Mitarbeitern und erwarte von ihnen aber auch, dass sie eine falsche Entwicklung erkennen und mir mitteilen. Das sollte in Firmen auch beispielsweise von Azubis so gehandhabt und dann auch vom Chef beachtet werden. Manche Assistenzärzte erkennen Fehler des Chefarztes bei einer OP, trauen sich aber nicht, etwas zu sagen“, beschreibt der Familienvater ähnliche Situationen.

Mit 17 zum Schirilehrgang

Seit 2009 darf er in der Bundesliga Spiele leiten, damals war er der erste auf der Liste des Deutschen Fußballbundes (DFB) mit türkischen Wurzeln. „Ich habe zwölf Jahre selber gespielt, aber irgendwann die Regeln nicht mehr verstanden. Durch meinen damaligen Obmann bin ich mit 17 zu einem Lehrgang gekommen und habe später gemerkt: Beides geht nicht. Schließlich bin ich beim Schiedsrichterwesen geblieben und anschließend ging es steil bergauf“, blickt Aytekin zurück.

Zeit für ein gemeinsames Foto: Bundesligaschiedsrichter Deniz Aytekin (re.) mit halloherne-Redakteur Marcel Gruteser, selbst als Schiedsrichter aktiv, der gespannt zuhörte.

Nachdem es zunächst mal ein Highlight war, im Gespann auf das Feld zu laufen, ist mittlerweile sein persönlicher Höhepunkt das DFB-Pokalfinale von 2017 in Berlin, bei dem Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt aufeinander trafen. In Erinnerung geblieben ist ihm auch das Achtelfinal-Rückspiel in der Champions League im März 2017, als der FC Barcelona durch ein 6:1 die 0:4-Hinspielniederlage gegen Paris Saint-Germain wett machte - drei Tore fielen erst ab der 88. Minute. Aytekin wurde später von PSG als Buhmann für das Ausscheiden ausgemacht.

„Der Druck in solchen Partien, aber auch in jeder anderen, ist enorm. Wenn man am letzten oder vorletzten Spieltag oder in KO-Spielen eine Partie leitet, weiß man, dass die eigenen Entscheidungen über Meisterschaft, Abstieg oder Weiterkommen und damit auch viel Geld entscheiden. Deshalb gilt es immer, maximal fokussiert zu sein“, beschreibt er.

2019 und 2022 wurde er schließlich als Schiedsrichter des Jahres ausgezeichnet - dabei galt er in einer Umfrage vom Fachmagazin „kicker“ nach seiner zweiten Bundesligasaison unter den Spielern noch als schlechtester Referee. Mittlerweile (Stand Januar 2023) führt er die Rangliste an, Spieler würden sich beinahe „freuen“ ihn zu sehen und seien bereits vorm Spiel kleinlaut.

Am Anfang wollte Aytekin zu perfekt sein

„Ich wollte am Anfang perfekt sein und habe mich auch den Spielern gegenüber falsch verhalten. Daran habe ich gearbeitet und vor allem versucht, meine Entscheidungen zu erklären, kommunikativ vorzubereiten und sie zu leben“, berichtet Aytekin. Beispiele dafür: Er erklärt den Spielern (meistens, je nachdem wie sie auf ihn zukommen) ruhig, warum er ein Foulspiel gepfiffen habe.

Zudem habe er einmal Mirko Slomka (damaliger Trainer von Hannover 96) über seinen Assistenten bereits vorgewarnt, dass ein H96-Stürmer nach einem Siegtor kurz vor Schluss in Kürze aufgrund von Trikot ausziehen (Gelbe Karte) und auf den Zaun zu den Fans klettern (Gelb-Rot) vom Platz fliegen würde - das wäre zwar eine „scheiß Regel“, aber ihm seien die Hände gebunden. Slomka wiederholte diese Worte später in einem TV-Interview, ohne Kritik am Referee.

Wichtig seien außerdem Empathie und Respekt - gerade letzteres Wort wiederholt Aytekin fast gebetsmühlenartig. Respekt habe er schon als kleiner Junge gelernt, der mit sieben Jahren plötzlich mit den Großeltern wieder in die Türkei musste, dort eine strenge Schulbildung erlebte und zwei, drei Jahre später wieder zurück in Deutschland wieder einen lockeren Umgang erlebte. Heutzutage, sagt der Oberasbacher (Bayern), würde dieser Respekt gegenüber Rettungskräften, Lehrern und anderen Autoritätspersonen zunehmend verschwinden, bemängelt er.

Sechs bis acht mal pro Woche Sport

Gleichzeitig sei eine richtige Vorbereitung das A und O, erklärt Aytekin. „Ich mache sechs bis acht Mal die Woche Sport, um mithalten zu können. Den kürzlichen Leistungstest habe ich knapp überlebt“, erwähnt mit einem Grinsen. Pierluigi Collina, die italienische Schiedsrichterlegende mit Glatze, habe ihm mal bei einem FIFA-Lehrgang einen wichtigen Satz mitgegeben, den er seitdem immer wiederholt: „You have to be prepared“, man muss also vorbereitet sein.

Gemeinsam hinter dem

Dementsprechend bereite er sich auf das DFB-Pokalspiel von Freitag (11.8.2023) zwischen Sandhausen und Hannover 96 genauso vor, wie wenn er im Dortmunder Signal Iduna Park (für viele ist es das Westfalenstadion) den BVB gegen den FC Bayern pfeift. Mit Hilfe von Onlinetools kann er sich auf jeden Mannschaft in Bezug auf Abstöße, Ecken und weitere Dinge im Spiel gezielt vorbereiten. Dabei ist es ihm sehr wichtig zu betonen: „Ich beschwere mich nicht über diesen Aufwand. Pflegekräfte und ähnliche Berufe leisten viel mehr während ihrer Arbeitszeit.“

Zuhause muss er 'Die Bachelorette' mit der Frau schauen

Zusätzlich ist der 45-Jährige neben den sportlichen Aktivitäten vor allem online geschäftlich unterwegs. „Ich wollte nie vom Fußball oder vom DFB abhängig sein. Deshalb habe ich relativ früh parallel Unternehmen aufgebaut oder bin bei Start-Ups eingestiegen“, berichtet der Hobby-DJ, der gerne auf Ibiza Urlaub macht. So ist er Chef oder Teilhaber bei den Seiten Anwalt.de und Fitnessmarkt.de, war früher bei AstroTV mit im Boot und ist nun Teil einer Firma, die Silberschmuck für Männer anbietet - während er privat Zuhause immer mit seiner Frau die RTL-Datingshow „Der Bachelor“ bzw. „Die Bachelorette“ schauen muss, wie er mit einem Lachen verrät.

Oder er tritt, wie eben bei Reifen Stiebling, als Redner auf und hat bereits einige Bücher geschrieben. Seine Ausbildung hat er damals als Industriekaufmann bei Daimler-Benz absolviert, bevor er später zu einer Bank gewechselt ist.

Antizipation, Zusatzinfos und mehr

Dabei hat ihm auch seine Entscheidungsstrategie, wie er es nennt, geholfen. „Wichtig sind Antizipation, das Entwickeln von Automatismen, das Wahrnehmen von Zusatzinformationen und die Spielerreaktionen erfassen“, schildert der Franke. Dies unterlegt er mit mehreren Videosequenzen aus seinen Spielen.

Obwohl er kürzlich von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder den Verdienstorden überreicht bekam, übt er sich in Demut. Demut, die im Milliardengeschäft Fußball, egal ob in Deutschland, England, Spanien oder nun auch Saudi-Arabien, längst bei den Verantwortlichen und Spielern, angesichts zahlreicher Transfers oberhalb von 100 Millionen Euro und exorbitanten Gehältern, der Vergangenheit angehört. „Diese Summe sind für Normalsterbliche kaum greifbar. Aber das ist ein großes Business und wird von Angebot und Nachfrage bestimmt.“

Das große Business gibt es nicht in der Kreisliga, also der Basis. „Dafür gibt es dort viel mehr Meldungen von Gewalt, jede davon ist eine zu viel. Allerdings habe ich dafür auch keine Lösung - aber wir sind auch kein Freiwild, wir müssen uns nicht alles gefallen lassen. Wichtig ist, als Schiri auch mal mit den Spielern zu sprechen und Konflikte proaktiv zu lösen sowie selbst nicht als Gott in Schwarz aufzutreten“, meint der Unparteiische.

Der VAR und Beleidigungen im Internet

Abschließend nahm Aytekin noch zum Thema Videoassistent (VAR), Spitzname „Kölner Keller“, Stellung: „In der vergangenen Saison waren zwölf von 110 Entscheidungen falsch. Wir wollen gerne 100 Prozent haben, aber das werden wie nie schaffen, weil dort Menschen sitzen. Das Problem ist, dass die wenigen falschen Entscheidungen dann tagelang diskutiert werden und die Schiris dann, oft in den sozialen Medien, aufs Übelste beschimpft werden. Das ist geistiger Bullshit und ein rechtsfreier Raum. Das wird man aber genauso wenig abstellen können.“

Christian und Alexander Stiebling hätten auch gerne das Mikrofon vom Bundesligaschiri gar nicht abgestellt, bedankten sich aber im Anschluss für den sehr informativen Abend und sagten beide: „Wir fanden es wunderbar.“ Damit waren die Gastgeber nicht die einzigen Zuhörer.

Fünfteilige Doku 'Unparteiisch' in der ARD

Wer noch mehr von Deniz Aytekin und seinen Kollegen aus der höchsten deutschen Spielklasse sehen möchte, kann dies derzeit in der fünfteiligen ARD-Doku „Unparteiisch“ tun. Hier wurden die Schiris auf und neben dem Platz begleitet, teilweise ist auch die Funkverbindung im Spiel zu hören. Die Doku ist über diesen Link in der ARD-Mediathek, als auch die App und Smart-TVs abrufbar. Die Termine zur TV-Ausstrahlung sind am Samstag, 26. August 2023, ab 22 Uhr sowie am Dienstag, 12. September 2023, ab 23:30 Uhr.

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  • Samstag, 26. August 2023, um 22 Uhr
  • Dienstag, 12. September 2023, um 23:30 Uhr
Donnerstag, 17. August 2023 | Autor: Marcel Gruteser