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Die Engels, für Regisseur Tom Tykwer eine typisch deutsche Bobo-Familie, am Esstisch, v.l. Dio (Elyas Eldridge), Milena (Nicolette Krebitz), Frieda (Elke Biesendorfer), Jon (Julius Gause) und Tim (Lars Eidinger).

Tom Tykwers Berlinale-Eröffnungsfilm

'Das Licht' als Befreiungsschlag

Update, Donnerstag (27.3.2025)

Weiterehin zu sehen im Casablanca Bochum, im Roxy Dortmund, in der Schauburg Gelsenkirchen, in der Lichtburg Essen sowie im Bambi Düsseldorf.

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Der Kino-Text

Blitzgewitter-Seance im anonymen Mietwohnblock an der Peripherie im Osten der Hauptstadt. Der Prolog zum Eröffnungsfilm der 75. (Jubiläums-) Berlinale, „Das Licht“ von Tom Tykwer, ist vielversprechend. Die erste Einstellung aber führt wie üblich im deutschen Film in die großbürgerlich eingerichtete Altbau-Wohnung einer wohlsituierten, im Presseheft als „typisch deutsch“ gekennzeichneten Familie namens Engels. Wo gerade die langjährige Haushälterin beim Putzen der Küche tot umgefallen ist, ohne dass es zunächst jemandem aufgefallen wäre.

Die Engels bestehen aus Vater Tim (Lars Eidinger), der als selbst erklärter Gutmensch wie ein missionarisch weltverbessernder SPD-Abgeordneter redet, aber seine Kohle mit höchst suspekten Greenwashing-Werbekampagnen verdient und aus der emanzipiert-weltoffenen Mutter Milena (Nicolette Krebitz), die als Projektbetreuerin mit deutschen Geldern gerade irgendwo in der kenianischen Pampa ein Theatergebäude hochzieht und dafür dauernd im Flugzeug nach Nairobi sitzt.

Hinzu kommen die gemeinsamen 17-jährigen Zwillingen Frieda (Elke Biesendorfer) und Jon (Julius Gause) sowie der Jüngste, Milenas Sohn Dio (Elyas Eldridge). Der aus einer offenbar nur kurzen Beziehung mit dem Kenianer Godfrey (Toby Onwumere) stammt, der in Nairobi für die Unesco, die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, arbeitet.

Eine Bobo-Familie

Die Engels, die glatt als Bobo-Familie durchgeht (der Neologismus, der gleichzeitig auch Oxymoron und Akronym ist, setzt sich aus den französischen Wörtern bourgeois und bohémien zusammen), leben naturgemäß in West-Berlin und können sich sogleich eine neue Haushälterin leisten, die frisch aus Syrien gekommene Farrah (Tala Al-Deen).

Sie hat in Aleppo als medizinische Fachkraft gearbeitet, ist dreisprachig und als empathische Therapeutin dieser dysfunktionalen Familie, in der jedes Mitglied vor allem um sich selbst kreist, völlig überqualifiziert. Farrah spendet den Engels dennoch das titelgebende Licht mit ihrem scheinbar selbstlosen Einfühlungsvermögen für alle Familienmitglieder einschließlich der sich einer Paartherapie unterziehenden Eltern.

Zocken, sprechen und trösten

Sie zockt mit dem nerdigen Jon, welcher das echte Leben mit dem virtuellen der VR-Brille eintauscht, der sich Essen in sein zugemülltes Zimmer bestellt, das er nur im äußersten Notfall verlässt, und keine Traute hat, eine an ihm interessierte Gamerin real zu treffen. Sie spricht mit der angeblich unter einer Sexstörung leidenden, nun aber schwangeren Frieda, die mit ihrer Clique in angesagten Clubs abhängt und Gefahr läuft, drogenabhängig zu werden. Und sie tröstet Dio, der es seiner Hautfarbe wegen schwer hat in der Schule.

Tala al-Deen als syrische Haushälterin Farrah – eine Entdeckung. Die gebürtige Heidelbergerin des Jahrgangs 1989 gehört zum Ensemble des Schauspielhauses Wien.

Als Tim seinen gut dotierten Freelancer-Job bei der Werbeagentur verloren hat und das Theater-Projekt in Kenia zu scheitern droht, ist es Farrah, die mit einer an spiritistische Sitzungen erinnernden Séance, bei der flackerndes Stroboskop-Licht zum Einsatz kommt, eine in der Neurologie und Psychotherapie tatsächlich existierende Therapie zur Stimulanz bestimmter Gehirnregionen, die Familie wieder an einem Tisch zusammenbringt – bis Dio aus dem Nebenzimmer das Experiment abrupt beendet.

Autor und Regisseur von 'Babylon Berlin'

Apropos Experiment: Nach acht Jahren und vier Staffeln mit der TV-Serie „Babylon Berlin“ ist Autor und Regisseur Tom Tykwer, 1965 in Wuppertal geborener Miteigentümer der Berliner Produktionsfirma X Filme Creative Pool, mit seinem Kinofilm „Das Licht“ in die Gegenwart zurückgekehrt und zu Figuren, die ihm offenbar persönlich sehr nahe sind, indem sie sich der Frage „Wer bin ich?“ stellen.

Die mit 162 Minuten viel zu lange, an Metaphern überreiche Melange aus Gesellschaftskritik und (Selbst-) Ironie beleuchtet die zerbrechende Ordnung im linksintellektuellen bürgerlichen Milieu mit ungewöhnlichen Extempores (Tanz, Gesang) und einer Vielfalt an bildkünstlerischen Mitteln (animierte Sequenzen, VR-Gaming).

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Mir scheint, „Das Licht“, gedreht vom 25. September bis zum 16. Dezember 2023 in Berlin, Köln sowie in Kenia und am 13. Februar 2025 auf der 75. Berlinale in der Sektion Special uraufgeführt, ist vor allem Tom Tykwers eigener Befreiungsschlag von den Zumutungen einer schier nicht enden wollenden, weil höchst erfolgreichen konventionellen Bildschirm-Serienproduktion. Zum Kinostart am Donnerstag, 20. März 2025 bei uns zu sehen im Casablanca Bochum, im Roxy Dortmund, in der Schauburg Gelsenkirchen, in der Lichtburg Essen sowie im Bambi Düsseldorf.

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  • Donnerstag, 20. März 2025
Donnerstag, 20. März 2025 | Autor: Pitt Herrmann