Kolumne von Hans-Jürgen Jaworski
Der ambivalente 31. Oktober
Eigentlich kann ich nichts mit Halloween anfangen. Dennoch denke ich immer öfter, dass dieses makabre Fest vielleicht noch viel stärker begangen werden sollte; denn die hohlen Köpfe, also ausgehöhlten Kürbisköpfe, spiegeln symbolträchtig unsere gesellschaftliche Situation wider, in der es offensichtlich zu viele Hohlköpfe auf zwei Beinen gibt.
Anders kann ich mir vieles, was gerade jetzt unter uns abläuft, nicht erklären: Es werden vermehrt antidemokratische Parteien gewählt, die immer wieder in ihren Äußerungen an Zeiten erinnern, von denen wir dachten, dass sie längst begrabene Geschichte seien. Man empfindet Sympathien mit Autokraten und Despoten, die ihre eigenen Völker ausbeuten. Es wird immer öfter rassistisches und antisemitisches Gedankengut nicht nur geduldet, sondern auch hirnlos (oder vielleicht doch gezielt?) nachgeplappert. Man läßt sich in einem nie da gewesenem Maße von Fake News manipulieren und folgt den skurrilsten Verschwörungstheorien.
Ausgehöhltes Sozialsystem
Und weiter: Bis hin zu den politischen Spitzen scheint man die Tatsache, dass selbst in globalen Krisen die Reichen immer reicher und die Armen logischerweise immer ärmer werden, als „gottgegeben“ hinzunehmen. Und dass unsere Sozialsysteme immer weiter ausgehöhlt werden, unter anderem auch dadurch, dass das Soziale (oder eben die Not der Menschen) ein wunderbares Geschäftsmodell darstellen, scheint nur vordergründig ein Aufreger zu sein, solange nicht ernsthaft an einer gerechteren Verteilung der gesellschaftlichen Lasten gearbeitet wird.
Zum Accessoire von Halloween gehören bekanntlich auch Totenköpfe und Skelette. Das ist nicht nur einfach kitschig oder gruselig, sondern äußerst geschmacklos in einer Zeit, in der Millionen von Kindern bis auf ihre jungen Knochen abmagern und elendig verhungern, in der Hunderttausende auf Schlachtfeldern nah oder fern krepieren für den mörderischen Machthunger weniger Verrückter , vielleicht im Namen von den Einzelnen verachtenden Ideologien.
Man mag nun meine Gedanken als eine Art Rundumschlag verstehen oder auch abtun. Aber ich schreibe aus einer starken Betroffenheit heraus, und – ehrlich gesagt – wir alle sind doch Betroffene! Und in dieser Betroffenheit frage ich mich letztlich, ob das Gerede von dem „Volk der Dichter und Denker“ nicht auch nur ein Fake war, dem wir aufgesessen waren.
Das Halloween heutiger Erscheinung ist ein recht junger Import aus den USA, garantiert gefördert von fleißigen Geschäftemachern.
Gedenktag der Reformation
Aber der 31.Oktober ist viel, viel länger, mehr oder weniger seit dem 16. Jahrhundert, der Gedenktag der Reformation. Er erinnert daran, dass der Mönch Dr. Martin Luther sich das eigene Nachdenken nicht verbieten ließ und dadurch vor gut 500 Jahren eine Welle der Veränderungen auslöste, die, nicht übertrieben, die ganze, damals bekannte Welt, durchlief und in den folgenden Jahrhunderten mehr oder weniger den ganzen Globus.
In den Fehlentwicklungen der Gesellschaft und der Kirche seiner Zeit, fand er zurück durch eigenes Nachdenken und Forschen zu den Quellen und der Basis unseres Glaubens. Dabei ließ er sich nicht von den Mächtigen einschüchtern und einschränken, gegen jeglichen Widerstand blieb er sich treu und ließ sich nicht von den sogenannten Autoritäten ein X für ein U vormachen. Was er für die Kirche damals wie heute neu entdeckte, was absolut verschüttet war und bis heute immer wieder mit allem Möglichen überkleistert wird, ist in dieser berühmten Formulierung deutlich geworden: allein Christus (solus Christus), allein die Schrift (sola scriptura), allein die Gnade (sola gratia) und allein der Glaube (sola fide).
Glaube, Liebe und Hoffnung
Diese bekannte „Formel“ war für Luther viel mehr als eine „innerkirchliche Dienstanweisung“. Er wusste: Wo sich der Einzelne verändert, verändert sich die Kirche, wo sich die Kirche verändert, verändert sich die Gesellschaft. Er wusste, dass es letztlich darum geht, dass Glaube, Liebe und Hoffnung im Einzelnen und dadurch in der Gemeinschaft konkret werden.
Dabei sollte dieser Gedanke niemanden eingetrichtert oder vorgeschrieben werden. Jeder wurde aufgerufen, selbst nachzudenken, zu prüfen und zu entscheiden. Deshalb übersetzte er in kürzester Zeit die Bibel ins Deutsche und prägte allein dadurch, ganz nebenbei, unsere deutsche Sprache. Er prägte weiter unsere Musik, unsere Literatur, unsere Schulen und manches mehr. Durch seine Erkenntnisse entwickelte sich in der Folgezeit eine demokratisch verfasste Kirchenstruktur, die sog. presbyterial-synodale Verfassung. Er legte mit den Grundstein dafür, dass ihm etliche Dichter und Denker folgten.
Sicher, machte Luther nicht alles richtig, er war natürlich ein Kind seiner Zeit. Aber er befand sich an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Zwar stand er noch mit einem Bein im Mittelalter, aber mit einem Bein schon in der sogenannten Neuzeit, die er entscheidend mitprägte, weil er einfach kein „Hohlkopf“ war, sondern eben ein Denker und auch Dichter. Ich möchte es einmal so ausdrücken: Wir dürfen stolz auf unseren Luther sein. Aber sollten ihn natürlich nicht als Heiligen verehren!
Seit Wochen werde ich auf Halloween aufmerksam gemacht, Kürbisse werden mir geradezu nachgeschmissen, auch Anleitungen, wie man solch einen Kürbis schön aushöhlen kann.
Kaum etwas zum Reformationsfest gehört
Gerade deshalb frage ich mich, warum ich im Vorfeld zum 31. Oktober kaum etwas zum Reformationsfest gehört oder gelesen habe. Warum wird nicht geworben mit dem, worauf wir stolz sein dürfen und worauf wir uns beständig berufen? Gut, mit einigen Klicks habe ich im Internet herausgefunden, daß es für ganz Herne zwei Reformationsgottesdienste heute gibt, kurz und knapp angekündigt. Mehr aber nicht.
Natürlich ist man sehr beschäftigt mit der Verwaltung des Mangels an Finanzen und Personal, mit Gebäudemanagement , wie es heute heißt, und vor allem mit Strukturveränderungen, z.B. Gemeindezusammenlegungen. Wobei möglicherweise sich manches in der Zukunft als Fehloptimierung herausstellen wird.
Ich glaube, die Besinnung auf die Reformation, auf allein Christus, allein die Schrift, allein die Gnade, allein der Glaube, und das Raumgeben von Glaube, Liebe, Hoffnung wären keine Fehloptimierungen und würden wirklich verändern und Zukunft eröffnen, so wie es vor 500 Jahren schon einmal geschah; denn unseren Verstand, das hat Luther gezeigt, müssen wir absolut nicht an der Kirchentür abgeben.
Aber vielleicht wird das Inhaltliche der Reformation so wenig ins Schaufenster gestellt, weil man ahnt, dass das Angebot an der Theke kaum noch zu haben ist oder, dass es im Chaos des Ladens nicht so leicht zu finden sei.
Neue Reformation?
Und wenn es so, vielleicht auch nur ein wenig, sein sollte, dann wäre es Zeit für eine erneute Reformation. Wie sagen wir Theologen doch immer wieder: Ecclesia semper reformanda est“. Auf gut deutsch: Die Kirche muß beständig reformiert werden. Na, bitte!
Wie gesagt: mit Halloween und hohlen Köpfen kann ich nichts anfangen – trotz dieser übermächtigen Kürbisinvasion.
Ich gehe heute lieber in einen Reformationsgottesdienst. Es gibt ja zwei in Herne!