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Martin Wuttke in der Titelrolle: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui.

BE-Klassiker im Stream der Woche

Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui

25 Jahre Bertolt Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ am Berliner Ensemble (BE). Intendant Oliver Reese hatte für den 3. und 4. Juni 2020 zwei Jubiläumsveranstaltungen am Schiffbauerdamm geplant, aber die sind coronabedingt ins Wasser gefallen. Die legendäre, vielfach preisgekrönte Inszenierung des bereits von schwerer Krankheit gezeichneten Intendanten Heiner Müller, Premiere war am 3. Juni 1995, begeisterte auch als ein Höhepunkt der Ruhrfestspiele 2019 das Publikum im Revier. Weil Brechts Parabel nichts an Aktualität verloren hat, und weil Martin Wuttke in der Titelrolle Kultstatus genießt. Nun ist der BE-Klassiker als „Stream der Woche“ von Freitag, 29. Mai, bis einschließlich Donnerstag, 4. Juni 2020, in einer 3 Sat-Aufzeichnung vom Theatertreffen 1996 auf BE at home kostenlos abrufbar.

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Der Stoff, aus dem Brecht ab 1941 im finnischen Exil ein komödiantisches Gangsterstück machte, ist das wohl schwärzeste Kapitel der deutschen Geschichte: Adolf Hitlers Machtergreifung – seine Innenpolitik in der Weimarer Republik (Hindenburg, Osthilfeskandal, Reichstagsbrand), die Säuberung in den eigenen Reihen (Liquidierung des sozialistischen Flügels Röhm/Strasser der NSDAP), die Annexion Österreichs.

Brecht siedelt die Handlung im Gangstermilieu von Chicago an. Zum einen, um zu verfremden und zu poetisieren im Gestus der klassischen Tragödie, zum anderen, um die amerikanische Öffentlichkeit endlich wachzurütteln – zu einer Zeit, als es längst zu spät war! Er hat seine lehrstückhafte Parabel nach dem historischen Vorbild Al Capones und des amerikanischen Gangsterkrieges im Stil einer Historienfarce kurz vor der Überfahrt in die USA geschrieben mit dem erklärten Ziel, sie am Broadway aufzuführen. Was sich jedoch zerschlug, erst nach Brechts Tod wurde Arturo Ui 1958 in Stuttgart durch seinen Schüler Peter Palitzsch urinszeniert.

Sein Zeitstück, das ebenfalls erst posthum im Jahr zuvor in der Ost-Berliner Literaturzeitschrift Sinn und Form erstmals publiziert worden war, hat Brecht selbst an seinem Berliner Ensemble bewusst nicht inszeniert: ihm kamen Skrupel ob der allzu starken Simplifizierung der Hitler-Diktatur, der Nazi-Parodie. Sein für den Augenblick, den konkreten Zweck geschriebenes Parabelstück zeigt nämlich einen Faschismus ohne Massenbasis, verkürzt ihn als Verschwörung kleiner Gangster.

Zu den legendären Produktionen des Berliner Ensembles gehört Arturo Ui dennoch, beginnend mit einer Inszenierung, die Palitzsch 1959 zusammen mit Manfred Wekwerth realisierte. Sie stand noch Jahrzehnte auf dem Spielplan und wurde über 500 Mal gespielt – mit einem chaplinesken Ekkehard Schall in der Titelrolle. Und dann Heiner Müller, letzter Überlebender der Wende-Fünferbande um Peter Zadek. Bereits im September 1995 musste Marianne Hoppe für den erkrankten Bernhard Minetti die Rolle des Schauspielers übernehmen, die nun beim Gastspiel auf Recklinghausens Grünem Hügel der 86-jährige gebürtige Berliner Jürgen Holtz verkörpert.

Seit 1995 hat es im Ui-Ensemble natürlich manche Fluktuation gegeben – Uwe Preuss und Thomas Wendrich sind von Anfang an dabei und realisierten den Dokumentarfilm So lang „ich nicht schieß“ – Arturo Ui in Tel Aviv mit Martin Wuttke in der Titelrolle. Und der sorgt immer noch für die besonderen Momente dieses völlig staubfreien, mit 165 Minuten keinesfalls überlangen Oldtimers im düsteren Bühnenbild des späteren Bochumer Informel-Künstlers Hans Joachim Schlieker. Dass er nach wie vor in ungebrochener, unter die Haut gehender Virtuosität, den Ui spielt, ist ein Glücksfall für Brechts Historienfarce, die sicherlich zu seinen schwächeren Stücken zählt, hier aber zum aktuellen Lehrstück unserer Tage mutiert. Der Gelsenkirchener des Jahrgangs 1962 macht durch seine stark körperbetonte Interpretation, für die er in der Kritiker-Umfrage des Fachmagazins Theater heute zum Schauspieler des Jahres 1996 gekürt wurde, aus der Titelfigur des so demagogischen wie skrupellos-machtgierigen Politikers einen vielfach behinderten Kleinbürger, der seinen Aufstieg dem eigenen Beharrungsvermögen, aber auch der selbstüberheblichen Ignoranz und Blindheit der Mächtigen in Politik und Wirtschaft verdankt.

Freitag, 29. Mai 2020 | Quelle: Pitt Herrmann