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Die Erwachsenen müssen nachsitzen (v.l.): Anne Cathrin Buhtz, Roman Kanonik, Marius Huth, Alexander Wertmann, Sandra Hüller und Tabea Sander.

Psalmen und Popsongs in Bochum

Der Würgeengel

In Luis Buñuels Film „El ángel exterminador“ aus dem Jahr 1962, durch das unveröffentlichte Theaterstück „Los n náufragos“ („Die Schiffbrüchigen“) von José Bergamín Gutiérrez angeregt, gibt das aristokratische Ehepaar Lucía und Edmundo im Anschluss an eine Opernpremiere für zwanzig Gäste, Künstler und Theaterbesucher, ein Abendessen. Zahlreiche Bedienstete haben das Haus verlassen, nur Julio ist geblieben.

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Obwohl der Schmortopf auf dem Teppichboden landet unterhalten sich die Gäste in prächtiger Laune mit der allseits umschwärmten Operndiva Silvia etwa über die nur „Walküre“ genannte Kollegin Leticia, die sich ihre Unschuld bewahrt haben soll. Der Kaviar wird aus großen Schüsseln gelöffelt: Es ist die feine Gesellschaft der bürgerlichen Oberschicht, die sich diesen Luxus leisten kann – und plötzlich Besuch von einem Lämmchen und einem offenbar zahmen kleinen Bär erhält.

Während Beatriz mit dem aus New York gekommenen, sich sehr amerikanisch-leger gebenden Leandro Gomez zu den Klängen der Klavier-Virtuosin Blanca tanzt, verkündet Dr. Carlos Conde der krebskranken Leonora, dass sie noch höchstens drei Monate Lebenszeit vor sich hat. Gastgeber Edmundo hat sich mit dem Dirigenten Alberto Roc, seinem Logenbruder, zurückgezogen, was seine Gattin Lucía zu einem Seitensprung nutzt.

Die Buñuelsche Operndiva als Popstar: Sandra Hüller ist zurück in Bochum, wenn auch nur als Gast. Am 24. April 2023 liest sie mit Jens Harzer Heinrich von Kleists „Käthchen von Heilbronn“.

Die Zeit schreitet fort, doch keiner will das Haus verlassen. Im Gegenteil: entgegen allen Konventionen hatten sich die Herren schon vor geraumer Zeit ihrer Sakkos entledigt, nun legen sich alle irgendwie irgendwo nieder. Auch am anderen Morgen steht das Tor des prachtvollen Anwesens zur Straße hin offen, aber niemand unternimmt auch nur den Versuch, es zu durchschreiten. Alle Gäste haben in ihrer Opern-Garderobe geschlafen und sehen entsprechend derangiert aus.

Inzwischen ist der erste Gast gestorben und die depressive Blanca stellt fest, dass die Stimmung immer aggressiver wird. Eine weitere Nacht vergeht und nun sind alle Essensvorräte aufgebraucht. Ein Wasserrohr muss aufgeschlagen werden, damit es wenigstens etwas zu trinken gibt. Rita Ugalde sucht mit wachsender Ungeduld ihre Pillendose, während der Oberst Alvaro bemüht ist, die Gemüter zu beruhigen. Weil der Körper des Verstorbenen nicht abtransportiert wird, muss gegen den zunehmenden Leichengeruch die Zimmertür abgedichtet werden.

Am nächsten Tag wird Mobiliar verfeuert, auch ein Cello wird zerlegt. Eduardo und seine Verlobte Beatriz werden im Schrank mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden: Doppel-Selbstmord. Bei immer mehr Gästen liegen die Nerven blank. Endlich hat Leticia eine Eingebung: Sie sieht die scheinbar ausweglose Situation als ein Schachspiel an. Blanca soll wieder ihre Sonate auf dem Flügel spielen und alle anderen Gäste ihre Ausgangsformationen einnehmen. Der Bann ist gebrochen und alle können die Villa verlassen. Aus Dankbarkeit lassen Gastgeber und Gäste im Dom eine Messe lesen. Und bleiben im Kirchenschiff eingeschlossen…

Besagte Lämmer und der Bär im Salon, Hühnerklauen in der Handtasche einer dem Okkultismus anhängenden Frau, eine über den Teppich rutschende Hand ohne Verbindung zu einem menschlichen Körper, aus einem Wandschrank fließendes Blut: Surreale Elemente gibt es zuhauf im 95-minütigen Film. Der titelgebende, dreimal in der Bibel vorkommend als von Gott zum Töten ausgesandter „Würgengel“, den Martin Luther in seiner Übersetzung „Verderber“ nennt, erscheint dagegen auf der Leinwand Buñuels nicht. Weshalb dessen Film auch als surrealer Gag ohne metaphorische Bedeutung interpretiert worden ist.

Die Mehrheit der Experten aber ist sich darin einig, dass Buñuel mit dieser höchst unrealistischen Geschichte von zwanzig Menschen, welche eine Villa nicht durch die geöffnete Tür verlassen können, die Groß-Bourgeoisie vorführen wollte: die feinen Leute lassen, je länger sie zusammengepfercht sind, die Masken fallen. Sie sind nicht nur äußerlich derangiert, sondern benehmen sich zunehmend bis hin zur offenen Kopulation wie Tiere.

Sechzig Jahre später hat die Dramaturgin Angela Obst den surrealistischen Filmklassiker für das Schauspielhaus Bochum adaptiert, die rund 100-minütige Koproduktion mit dem Schauspiel Leipzig feierte am 3. März 2020 heftig umjubelte Premiere: Regisseur Johan Simons sieht den „Würgengel“ als unsichtbare Schranken in unseren Köpfen: Wider besseres Wissen tun wir zu wenig gegen Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung, Krieg und andere Krisen.

Apathisch kauert das fünfköpfige, mehr als ein Dutzend Rollen verkörpernde Ensemble aus Leipziger (Anne Cathrin Buhtz und Roman Kanonik) und Bochumer Schauspielern (Marius Huth und Alexander Wertmann) sowie der vierfachen „Schauspielerin des Jahres“ Sandra Hüller im Grundschul-Klassenzimmer des Bühnenbildners Johannes Schütz. Die „Rätselhafte Willenlosigkeit“ als geradezu Marthalersche Seance, neumodisch gepimpt mit einer parallel zur Rampe auf Schienen fahrenden Livecam.

Wer gerade in welche Rolle schlüpft, spielt keine Rolle. Kenner des Films sind im Vorteil, alle anderen konzentrieren sich auf vier Auftritte eines kleinen Mädchens (Mina Skrövset alternierend mit Tabea Sander), das den Erwachsenen die Leviten liest – mit Forschungsergebnissen zu zwei stark gefährdeten Ökosystemen, dem lebenden Fossil „Perlboot“ und zum einschließlich Königin „demokratischen“ Bienenstaat.

„Weg mit allen Schätzen“: Dem Untertitel „Psalmen und Popsongs“ entsprechend werden von Johann Sebastian Bach vertonte Choräle wie gleich zu Beginn „Jesu, meine Freude“ kollektiv intoniert, begleitet von Moritz Bossmann an der Hammond- und Laura Wasniewski an der Kirchenorgel: hier begegnen sich Buñuels spanischer Katholizismus mit Simons‘ holländischem Protestantismus. Für die Popsongs ist dann Sandra Hüller in entsprechendem Outfit Katrin Aschendorfs zuständig.

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Karten für die nächsten Aufführungen am Samstag, 18. März 2023 und Mittwoch, 19. April 2022 jeweils um 19.30 Uhr (mit Einführungen um 19 Uhr) unter schauspielhausbochum.de oder Tel. 0234 – 33 33 55 55.

Sonntag, 5. März 2023 | Autor: Pitt Herrmann