halloherne.de lokal, aktuell, online.
Lustvolle Zerstörungswut: Molham Al Dawood, Emily Lück und Janik Holländer.

Geiselnahme am Rottstr5 Theater Bochum

Die fetten Jahre sind vorbei

Dass die Güter dieser Welt ungerecht verteilt sind, ist eine Binsenweisheit – und trotzdem wahr. Wie das zu ändern ist, darüber streiten nicht nur die Politiker und Ökonomen, sondern eigentlich alle. Jan (Janik Holländer), der „Einstein“ genannte intellektuelle Kopf, und der eher Rambo-mäßige Peter (Molham Al Dawood) haben ihren eigenen Weg gefunden. Sie brechen nachts in die Villen der Schönen und Reichen ein, aber nicht um in Robin Hood-Manier die Kostbarkeiten zu stehlen, um sie dann an ALG II-Empfänger zu verteilen.

Sondern die beiden Freunde stellen das Mobiliar auf den Kopf und richten so ein heilloses Durcheinander für die nach ihrer Rückkehr völlig perplexen Villenbesitzer an. Aber nicht nur das: Die selbsternannten „Erziehungsberechtigten“ hinterlassen auch schriftliche Botschaften wie „Sie haben zu viel Geld“ oder „Die fetten Jahre sind vorbei“. Als die 16-jährige Jule (Emily Lück) ins Spiel kommt, wird’s kompliziert. Denn sie ist eigentlich die Freundin von Peter, verliebt sich aber in Jan – und auch der beginnt plötzlich, die schnöde Kapitalistenwelt mit ganz anderen Augen wahrzunehmen.

Jule hat Schulden, nachdem sie mit ihrem unversicherten Auto an der 100.000 Euro teuren Nobelkarosse eines Managers einen Totalschaden verursacht hat. Das um Jule verstärkte Trio steigt nun in dessen Villa – und wird von ihm erwischt. Doch der sogleich überwältigte und als potentielle Geisel gefesselte Justus Hardenberg (Bochum-Rückkehrer Neven Nöthig) entpuppt sich nicht als der eiskalte Manchester-Kapitalist. Sondern, in der Vorlage ein mit Rudi Dutschke befreundeter Alt-68er, hier ein Leipziger 89er-Revolutionär, als einer, der viel Verständnis für die Motive der „Erziehungsberechtigten“ offenbart und sich auch sonst als sehr umgänglicher Typ erweist. Was zu Problemen führt, die durch Eifersüchteleien im Dreiecksverhältnis der unfreiwilligen Entführer noch verstärkt werden...

Ungeplante Geiselnahme: Janik Holländer, Emily Lück und Neven Nöthig.

Müssen Träume immer in billige Kompromisse münden? In der traditionellen Sommerproduktion des Bochumer Rottstr5 Theaters, Gunnar Dreßlers „Die fetten Jahre sind vorbei“ nach dem gleichnamigen, mit dem Deutschen Filmpreis in Silber ausgezeichneten Streifen von Hans Weingartner aus dem Jahr 2004, geht es um Widerstand und Anpassung. Die drei jugendlichen Protagonisten stellen sich – und unmittelbar auch dem Publikum - die Frage, was nötig ist, um unsere Gesellschaft gerechter zu machen: Jedenfalls nicht vier Stunden am Tag vor der Glotze hängen. Plötzlich wird aus gewaltlos-anarchischem Widerstand blutiger terroristischer Ernst…

Benjamin Werner hat mit einem dreiköpfigen young’n’rotten-Team inszeniert, heftig umjubelte Premiere war am 29. Juli 2022. Wobei neben Molham Al Dawood, der schon auf den Brettern des Schauspielhauses Bochum stand, und Neuzugang Janik Holländer eine Protagonistin des Rottstr5-Jugendclubs in dieser intimen Atmosphäre hautnah zu erleben ist: Emily Lück spielt auch in „Die Straße“ nach Cormac McCarthy in den Eisenbahnbögen unweit des Bochumer Bermuda-Dreiecks.

Das Nachwuchs-Trio hat mit Neven Nöthig einen erfahrenen Schauspieler an der Seite. Nach seiner Ausbildung an der Westfälischen Schauspielschule Bochum und dem folgenden Erstengagement am Schauspielhaus Bochum unter Claus Peymann, war er an zahlreichen Häusern in Deutschland, Luxemburg, Liechtenstein und der Schweiz engagiert. Nun ist er quasi an die Wurzeln zurückgekehrt: Beim Herner Theater Kohlenpott war er in „Tschick“ und ist noch in „Besuch aus Tralien“ und „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ zu sehen.

Sein Justus Hardenberg ist kein geläuterter Alt-Achtundsechziger wie bei Hans Weingartner und in der Bühnenadaption von Gunnar Dreßler, die nach der Uraufführung am 16. September 2006 am Staatstheater Mainz mit über dreißig Inszenierungen aktuell zu den meistgespielten Stücken im deutschsprachigen Raum gehört. Sondern ein Ossi, der 1989 bei den Leipziger Freiheitsdemonstrationen mitgemacht hat, sich dann aber der neuen kapitalistischen Ordnung der Wessis anpassen musste – mit einigem Erfolg, wie das Jahressalär von 3,7 Millionen Euro belegt.

Hardenberg sieht die zeitweilig aus dem Ruder zu laufen drohende „Entführung“ schließlich als „das beste Persönlichkeits-Entwicklungsszenarium meines Lebens“ an. Ganz ohne finalen Knalleffekt kommt Benjamin Werners siebzigminütiges Kammerspiel freilich nicht aus. Was allemal besser ist als die ironisch gemeinte Aussicht auf eine Weltverbesserung in der Kleinfamilie von Jan und einer schwangeren Jule in Frank Abts 2007er Inszenierung am Berliner Maxim Gorki Theater. Von der romantischen Insel-Utopie auf der Leinwand ganz zu schweigen.

Die nächste Vorstellung: Am Sonntag, 28. August 2022 um 19:30 Uhr. Karten für 14 / 7 Euro können per Email (), Telefon, SMS, WhatsApp 0163 7615071, und Facebook-Nachricht oder ab 19 Uhr an der Abendkasse reserviert beziehungsweise abgeholt werden (sofern nicht ausverkauft!).

Vergangene Termine (1) anzeigen...
  • Sonntag, 28. August 2022, um 19:30 Uhr
Mittwoch, 17. August 2022 | Autor: Pitt Herrmann