
Neu im Kino: 'Alle reden übers Wetter'
Die Heimat kann schrecklich sein
Clara scheint es geschafft zu haben. Die 39-jährige Mecklenburgerin ist Philosophie-Dozentin an einer Berliner Universität, schreibt an ihrer Dissertation über einen bestimmten Aspekt des Hegelschen Freiheitsgriffs und ganz nebenbei noch einen Aufsatz für einen Sammelband ihrer toughen Doktormutter Margot (Jutta Hofmann). Da bleibt fürs Privatleben mit ihrem Kreuzberger WG-Freund Faraz (Alireza Bayram) nur wenig Zeit, zumal sie auch noch mit einem ihrer Studenten, dem hartnäckigen Max (Marcel Kohler), angebandelt hat.
Auf der Abschiedsfete ihres Lehrstuhlinhabers Prof. Gerd Brandis (Thomas Bading), der kurz vor seiner Emeritierung steht, ist Clara die einzige Akademikerin aus den neuen Bundesländern und erfindet rasch einen Diplomaten-Vater, der sich nach dem Zusammenbruch der DDR erschossen hat, und eine Hausfrau-Mutter, um sich weiterer Nachfragen im Kollegenkreis zu entziehen. Es besteht überhaupt kein Grund, die eigene Herkunft zu verbergen, aber Clara ist der ständigen Nachfragerei überdrüssig.
Zurück zu den Wurzeln
Zum 60. Geburtstag ihrer Mutter Inge (Anne-Kathrin Gummich), die in Wirklichkeit stets berufstätig gewesen, seit der Wende aber ohne Arbeit ist, besucht Clara nach vielen Jahren wieder ihren kleinen Heimatort. Zusammen mit ihrer 15-jährigen Tochter Emma (Emma Frieda Brüggler), die weiterhin im Elternhaus lebt zusammen mit ihrem Vater Roland (Ronald Zehrfeld) und dessen junger Gattin Pia (Lisa Flachmeyer). Zurück also zu den Wurzeln, zu den Großeltern Hans (Hermann Beyer) und Charlotte (Christine Schorn), zu ihren Freundinnen von einst wie Heidi (Ute Lubosch) und Julia (Fanny Staffa).

Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, etwa in der Dorfkneipe, vor der Inges runder Geburtstag gefeiert wird. Den Billardtisch, auf dem sie einst Sex mit dem Wirtssohn hatte, gibt’s immer noch – und den Sohn auch noch, aber der ist jetzt mit Kathleen verheiratet. Und Inges Nachbar Klaus (Max Schlüpfer) hat, vor seiner Garage sitzend, immer noch alles im Blick. Aber die entsprechend tätowierte Dorfjugend hört Rechts-Rock der Marke „Deutschland erwache!“ und knattert mit getunten Schlitten durch die blühenden Landschaften.
Entfremdung von der eigenen Familie
Clara, die sich erfolgreich sowohl von den gesellschaftlichen Erwartungen als Frau und Mutter als auch von ihrem provinziellen Herkunftsmilieu emanzipiert hat, stellt ihr freies, selbstbestimmtes Leben zunehmend in Frage. Nicht nur, dass sie in der Berliner Uni-Blase ihre Mutter verleugnet hat und nun mit ihr so schwer ins Gespräch kommt wie mit ihrer Tochter Emma. Sondern sie erfährt schmerzhaft, dass die Entfremdung von der eigenen Familie und einstiger Jugendfreunde einer Entwurzelung gleichkommt, die von ihrem beruflichen und sozialen Aufstieg in der Hauptstadt nicht kompensiert werden kann. In der Schlusseinstellung sitzt die gesamte Patchwork-Familie im Auditorium, als Emma im Jugendorchester-Konzert die Tuba bläst.
In ihrem von der „Leuchtstoff“-Initiative des RBB geförderten Langfilmdebut „Alle reden übers Wetter“, erzählt die Brandenburgerin Annika Pinske von Heimat- und Identitätsverlust in durchaus pointierten Dialogen nicht ohne Humor und (Selbst-) Ironie. Ihr 89-minütiger Abschlussfilm an der Berliner Film- und Fernsehakademie dffb punktet mit genauen zwischenmenschlichen Beobachtungen, verzettelt sich aber immer wieder in Randgeschichten, die nur kurz angetippt und dann nicht weitererzählt werden. Wie die der Gastreferentin Hanna (Sandra Hüller) von der Universität Greifswald: Sie hat vor zwanzig Jahren in Erlangen bei Claras Doktormutter Margot studiert hat und beschimpft diese bei einer zufälligen Begegnung in der Berliner Universität auf übelste Weise.
Uraufgeführt am 12. Februar 2022 im Panorama-Wettbewerb der 72. Berlinale kommt „Alle reden nur übers Wetter“ am Donnerstag, 15. September 2022, in unsere Kinos. Zu sehen im Kino Endstation in Bochum-Langendreer zur Wiedereröffnung nach Renovierung, im Roxy Dortmund zur Wiedereröffnung des komplett neu sanierten City-Lichtspielhauses, in der Galerie Cinema Essen sowie im Düsseldorfer Bambi.