
Mehr als nur krachender Boulevard
'Die kahle Sängerin' in Bochum
In seinen „Notes et contre-notes“ hat Eugène Ionesco 1962 über die Entstehung seines ersten Theaterstücks „La Cantatrice chauve“ geschrieben: „Ich kaufte mir ein englisches Konversationslehrbuch für Anfänger und machte mich an die Arbeit. Ich schrieb die Sätze ab, um sie auswendig zu lernen. Beim aufmerksamen Wiederdurchlesen lernte ich zwar nicht Englisch, aber ich stieß auf erstaunliche Wahrheiten. (...) Nach der dritten Lektion wurden zwei Figuren eingeführt, von denen ich immer noch nicht weiß, ob es sie gegeben hat, oder ob sie Phantasie sind: Herr und Frau Smith, ein englisches Paar. Zu meiner großen Verwunderung ließ Frau Smith ihren Mann wissen, dass sie gemeinsam mehrere Kinder haben (...) Mein Ehrgeiz war gestiegen. Ich wollte meinen Zeitgenossen wesentliche Wahrheiten mitteilen, die mir das Konversationslehrbuch bewusstgemacht hatte.“
Radikale Absage ans realistische Theater
Zwei Ehepaare, darunter die besagten Smiths, ein Feuerwehrhauptmann und ein geheimnisvolles Dienstmädchen – das ist das Personal „des“ Klassikers des absurden Theaters, „Die kahle Sängerin“. Am 11. Mai 1950 im Théâtre des Noctambules in Paris uraufgeführt, schockierte er einst durch die radikale Absage an das (britische) Konversationsstück, ja an das realistische Theater überhaupt.
In dieser unerklärbar gewordenen und daher sinnwidrigen, abscheulichen, ja grausamen Welt, so der 1909 im rumänischen Slatina geborene, 1994 in Paris gestorbene Dramatiker Eugène Ionesco, ist keine Kommunikation mehr möglich. Verifiziert nicht zuletzt durch Entstehung und Titel der „Kahlen Sängerin“: Es tritt keine Sängerin im Stück auf, und schon gar keine kahle. Noch mehr aber durch die Rezeptionsgeschichte. Ionesco: „Ich stellte mir vor, so etwas wie die Tragödie der Sprache geschrieben zu haben. Bei der Aufführung überraschte es mich ziemlich, als ich die Zuschauer lachen hörte.“

Simons blendet auf die 1950er Jahre zurück
18 Jahre nach Jan Bosse hat nun Johan Simons „Die kahle Sängerin“ am Schauspielhaus Bochum inszeniert und dabei nicht nur in der Ausstattung (Bühne: Simons und Sascha Kühne, Kostüme: Britta Brodda und Sophia Deimel) auf die Entstehungszeit des Stücks fünf Jahre nach der Apokalypse des Zweiten Weltkriegs rekurriert: In kurzen blitzartigen Sequenzen auf vier Bildschirmen, die im kahlen, von Neonröhren-Reihen grell erhellten Raum eines Übergangswohnheims für Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene hinter paarweise gestellten Metallbettgestellen situiert sind, flackern traumatische Erlebnisse auf, Nazi-Größen und Düsenjäger. Aber auch (Werbe-) Verheißungen auf eine in jeder Hinsicht bessere Wirtschaftswunder-Zeit.
Die Smiths erwarten Gäste. Die lebenslustige Stacyian Jackson im aufreizenden, hochgeschlitzten Roten, löffelt gefühlt minutenlang Joghurt aus einem Glas, um sich dann gelangweilt aufs einzige Bettgestell mit Matratze zurückzuziehen. Ihren um einiges älteren, nicht nur auf dem Kopf ziemlich wirren und jedenfalls arg gebeutelten Gatten gibt Stefan Hunstein wunderbar britisch-exzentrisch mit reichlich Understatement. Nur in seiner verschmitzten Mimik lässt er den geprügelten Hund heraushängen: „Vergessen wir, Darling, was mit uns nicht geschehen ist.“
Das Publikum wird mitgenommen
Beide sitzen wie der Rest des sechsköpfigen Ensembles in der ersten Parkettreihe und nehmen so das Publikum mit in das auch dramaturgisch geschickt getaktete Geschehen: einem mühsamen, ja zähen Beginn, Ausdruck für die Schwierigkeiten, nach all‘ dem Erlebten wieder in ein normales Leben zurückzufinden, folgt eine sich immer schnelle drehende Spirale des nackten Wahnsinns, um mit Michael Frayn zu sprechen.
Die auch ihr Dienstmädchen Mary befeuert, Paraderolle für Konstantin Bühler selbst in den geschmacklosen Comedy-Szenen (Stichwort Bettpfanne), mit denen beim Intendanten Johan Simons immer zu rechnen ist. Mary legt als Theaterfigur par excellence nicht nur Charles Aznavour auf und gibt im Sherlock-Holmes-Outfit dessen Adlatus Watson, sondern entsteigt den Katakomben der Unterbühne als Figur wie aus einem Bollywood-Film und spricht Nebentexte des Autors: Das Aus-der-Rolle-Fallen gehört inzwischen zum Standard heutiger Inszenierungen nicht nur in Bochum.
Alte Wahrheiten gelten nicht mehr
„Wie sonderbar, welch‘ seltsames Zusammenspiel“: Frischen Wind bringt das reichlich verspätete junge Paar Martin (einfach umwerfend: Jele Brückner und Marius Huth) in die stockende Konversation belangloser, phrasenhafter Dialoge. Schon allein deshalb, weil sich die beiden erst nach furiosem verbalem Pingpong als Eheleute erkennen, die in den gleichen vier Wänden wohnen. Freilich sind die in der Folge zur Sprache kommenden Ereignisse nicht weniger absurd, von den Geschichten des zuletzt hinzukommenden – und hier, nicht wirklich überraschend, von einer Frau gespielten – Feuerwehrhauptmanns (Danai Chatzipetrou) ganz abgesehen.
Vordergründig ist „Die kahle Sängerin“ schenkelklopfender Boulevard, optisch und akustisch völlig überdrehter Klamauk. Auf der Metaebene der pausenlosen achtzigminütigen Simons-Inszenierung aber macht alles Sinn: das Erschrecken, das ängstliche Aneinanderkuscheln, die Orientierungslosigkeit und die nicht von Erfolg gekrönte Suche nach Wahrheit in einer Zeit, in der alte Wahrheiten nicht mehr gelten – wie etwa in der Phase der deutschen Wiedervereinigung. Und erinnern nicht die nackten Stahlbetten an heutige Unterkünfte für Flüchtlinge und Asylsuchende?
Weitere Aufführungstermine
- Sonntag, 5. Mai 2024, 17 Uhr (Einführung 16:30 Uhr)
- Samstag, 11. Mai 2024, 19:30 Uhr
- Donnerstag, 30. Mai 2024, 19 Uhr (10-Euro-Tag, Einführung 18:30 Uhr)
- Mittwoch, 12. Juni, 19:30 Uhr (Einführung 19 Uhr)
- Sonntag, 30. Juni 2024, 19 Uhr.
Karten bekommen Interessierte über die Homepage des Schauspielhauses oder per Tel 0234 / 33 33 55 55.
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- Sonntag, 5. Mai 2024, um 17 Uhr
- Samstag, 11. Mai 2024, um 19:30 Uhr
- Donnerstag, 30. Mai 2024, um 19 Uhr
- Mittwoch, 12. Juni 2024, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 30. Juni 2024, um 19 Uhr