
Eine Dunkhase von Hinckeldey Kolumne
Es tut sich was in Herne
Der deutsche Gesundheitsmarkt platzt bekanntlich aus allen Nähten. Ich tue mich schwer, von einem „Gesundheitssystem“ zu sprechen. Konstruktionsgrundlage dieses „Systems“ ist ein Markt, in dem einerseits privatwirtschaftlich funktionierende Unternehmen, die Arztpraxen und Krankenhäuser, ihre Dienstleistungen anbieten und verkaufen. Käufer allerdings in diesem System sind nicht die Endkunden, sondern die Krankenkassen. Der Konsum der von ihnen eingekauften Leistungen erfolgt aber erst durch die eigentlichen Endkunden, die in diesem „System“ bekanntlich Patienten genannt werden. Normalerweise ist ein Konsum dadurch gekennzeichnet, dass der Konsument für die Bezahlung der von ihm erworbenen Waren oder Dienstleistungen verantwortlich ist. Nicht so im Gesundheitsmarkt. Da kann der Endkunde konsumieren, was der Markt hergibt, ohne dass er dafür in irgendeiner Weise in Anspruch genommen wird.
Deutsche Weltspitze in Arztbesuchen
Die Regulierung des Marktes erfolgt, indem die Krankenkassen nur eine begrenzte Menge an Leistungen, das mittlerweile sattsam bekannte Budget, einkaufen. Das führt zu einer Verknappung der verfügbaren Leistungen. Den Effekt einer Verknappung haben wir 2020 am Beginn der Pandemie gesehen, als bei Aldi und Lidl das Klopapier ausverkauft war. Im Gesundheitsmarkt führt die Verknappung einerseits und der Konsum zum Nulltarif nicht nur dazu, dass fachärztliche Termine oft erst mit einer manchmal monatelangen Vorlaufzeit vergeben werden können, sondern dass auch viele Haus- und Kinderarztpraxen keine Neupatienten mehr aufnehmen. Dabei sucht der durchschnittliche Deutsche 18 (Achtzehn) mal im Jahr einen Arzt auf. Damit sind wir einsame Weltspitze.
Konsum zum Nulltarif
Besonders außerhalb der Sprechstundenzeiten der Hausarztpraxen haben sich da allerlei trickreiche Verfahrensweisen eingebürgert, um vermeintlich bequem an ärztliche Dienstleistungen zu kommen. Dazu eine persönliche Erfahrung: Ich habe früher immer zusammen mit meinem Praxispartner den ärztlichen Notdienst absolviert. Wir hatten am Samstag oder Sonntag in der Regel circa 45 – 50 Patienten in 24 Stunden. Anschließend haben wir uns „spaßeshalber“ die einzelnen Fälle angeschaut bezüglich einer tatsächlich nachvollziehbaren subjektiven Notlage. Es waren nie mehr als 10 Fälle, bei denen man eine wirkliche Notlage, wie Schmerzen, Luftnot oder Ähnliches annehmen konnte. Alle anderen hätten ohne Einschränkung ihrer gesundheitlichen Problematik auch den Hausarzt aufsuchen können.
Keine Lust aufs Wartezimmer? Notarzt rufen!
Manche bestellten nur deshalb einen Hausbesuch, weil sie keine Lust hatten, im Wartezimmer des Hausarztes zu warten. Dort waren sie nämlich bekannt und hätten die Notwendigkeit eines Hausbesuches kaum vermitteln können. Dann kam die Praxisgebühr, die am Anfang bei jedem Notarztkontakt zu bezahlen war. Auf einmal hatten wir nur noch die wirklich 7 – 10 „echten“ Notlagen. In dem Maße, wie die Praxisgebühr im Notdienst entfiel, stieg auch wieder die unnütze Konsultierung des ärztlichen Notdienstes.
Chaotische Zustände in den Ambulanzen
In den Notfallambulanzen der Krankenhäuser führt das zu oft chaotischen Zuständen. Ursprünglich war im Rahmen der ambulanten Notfallversorgung das Krankenhaus gar nicht vorgesehen. Dafür war der kassenärztliche Notdienst zuständig. Deshalb können die Krankenhausambulanzen bis heute keine Kassenrezepte ausstellen. Mit einem grippalen Infekt das Krankenhaus aufzusuchen ist also völlig sinnlos.
Bagatellfall – Ja oder Nein – Arzt hat die Pflicht zur Prüfung
Da ein Krankenhaus aber immer ein prominentes Gebäude ist, wird es von vielen Patienten vorzugsweise angelaufen. Für die Explosion der Leistungsmenge in Krankenhausambulanzen ist neben dem Konsum zum Nulltarif die herrschende Rechtslage verantwortlich. Man darf als Arzt einen Patienten nämlich erst an die ggf. zuständige Stelle weiterleiten, wenn man ihn untersucht und sich vergewissert hat, dass dies notwendig und vertretbar ist. Notgedrungen muss somit auch jeder Bagatellfall erst einmal ärztlich begutachtet werden.
Technisch könnten auch kleinere Verletzungen wie Schnitt- oder Platzwunden, Verstauchungen und ähnliches im niedergelassenen System versorgt werden. Das ist aber – mit erheblicher Störung des normalen Praxisbetriebs – nur während der Praxisöffnungszeiten möglich.
In vielen Ländern sind Krankenhausambulanzen zur Versorgung auch von Bagatellerkrankungen zuständig. Begünstigt durch den zunehmenden Anteil an Migranten hat es sich eingebürgert, bei jeglichen gesundheitlichen Fragen und Problemen die Krankenhausambulanz aufzusuchen. Dieser Missstand ist schon mehr als 30 Jahre offensichtlich. Und schon damals hätte man auf die Idee kommen können, als Lösung dieser Probleme eine Zusammenlegung der Notdienste der niedergelassenen Ärzte und der Krankenhäuser ins Auge zu fassen. Das maximal Erreichbare sind in der Regel aber bis heute Notdienstpraxen in fußläufiger Nähe von Krankenhäusern. Der Effekt besteht oft darin, dass die Patienten gleich weiter in die Notaufnahme der Krankenhäuser gehen.
Mustergültige Fusion
Aber, was lange währt, wird manchmal auch gut. Ich durfte unlängst die neue Portalpraxis am und im Marienhospital besuchen. Und, es scheint mir, als habe dort mit der Fusion des kassenärztlichen Notdienstes und der Notfallambulanz des Krankenhauses ein echter Paradigmenwechsel stattgefunden.
Portalpraxis ist die Lösung
Dort ist während der sprechstundenfreien Zeit permanent mindestens ein niedergelassener Arzt anwesend. Auch räumlich hat man mit einer Rezeption ausreichend Wartezimmerplätzen und Untersuchungsräumen eine Notdiensteinrichtung geschaffen, die dem Bedarf gerecht wird. Patienten müssen also nicht mehr von nichtärztlichem Personal selektiert oder triagiert werden. Es können Bagatellerkrankungen sofort ärztlich versorgt werden, ohne darauf warten zu müssen, dass der diensthabende Arzt neben seiner Stationsarbeit Zeit dafür findet. Es können Rezepte, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausgestellt und alles, was an kassenärztlicher Bürokratie sonst anfällt, wahrgenommen werden. Gleichwohl steht aber auch bei Bedarf die Krankenhausinfrastruktur, z. B. mit Labor oder Röntgen zur Verfügung. Für die Effizienz des kassenärztlichen Notdienstes ist das eine drastische qualitative Verbesserung und für das Krankenhaus eine enorme Entlastung. Vor allem aber werden die Ärzte des Krankenhauses nicht mehr neben ihrer Stationsarbeit mit der Behandlung von Bagatellerkrankungen belastet.
Ich habe mich vor gut 10 Jahren schon einmal dazu geäußert. Schon damals hielt ich dieses Modell für alternativlos. Man sollte es jedem Krankenhaus, das eine Notfallambulanz betreibt, zur Pflicht machen, eine derartige Portalpraxis einzurichten.