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„Eugen Onegin“ Bele Kumberger als Tatjana.

Gelsenkirchener Produktion jetzt online

„Eugen Onegin“ als intimes Kammerspiel

André Kassels Kammerfassung der Oper „Eugen Onegin“ von Peter I. Tschaikowskis fand in der Spielzeit 2018/19 im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier großen Anklang. Sie wurde am 5. Mai 2019 zum letzten Mal aufgeführt. Nun gibt es mit MiR.Alternativ eine letzte Möglichkeit, dieses intime Kammerspiel zu sehen: am Freitag, 15. Mai 2020 sowie am Freitag, 22. Mai 2020, ist jeweils um 19:30 Uhr eine Aufnahme dieser Produktion in zwei Teilen auf mir.ruhr/alternativ zu sehen.

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In „Eugen Onegin“, den 1879 von Studenten des Konservatoriums am Moskauer Maly-Theater uraufgeführten „Lyrischen Szenen“, so der Untertitel Tschaikowskis, lebt die fröhliche Olga (frischgebackene Trägerin des Kölner Roderburg-Förderpreises: die Mezzosopranistin Lina Hoffmann) bei ihrer Mutter, der Generalswitwe Larina (Noriko Ogawa-Yatake), auf dem Land. Sie ist mit dem jungen, schwärmerischen Dichter Lenski (neu im Ensemble: der südafrikanische Tenor Khanyiso Gwenxane mit wunderbar weichem Timbre) verlobt, der eines Tages mit Onegin (Piotr Prochera) einen befreundeten Nachbarn mitbringt. Dem weltgewandten und daher von der Provinz eher angeödeten Gutsherrn verfällt Olgas introvertierter Bücherwurm von Schwester Tatjana (herausragend: Bele Kumberger) sogleich mit Haut und Haaren.

„Eugen Onegin“ mit Piotr Prochera in der Titelpartie.

Sie schreibt ihm noch am Abend einen flammenden Liebesbrief, doch der leichtlebige, vom jetzigen Dasein gelangweilte Onegin zeigt sich genervt und weist Tatjana am anderen Tag kühl zurück. Mehr noch: auf dem Fest zu ihrem Namenstag flirtet Onegin in aller Offenheit mit der lebenslustig-naiven Olga. Ein Streit mit dem darob eifersüchtigen Lenski endet in einer Katastrophe: Onegin tötet im Duell seinen einstigen besten Freund und muss als Mörder die Provinz für unbestimmte Zeit verlassen.

Viele Jahre später begegnet er Tatjana erneut, die inzwischen mit dem Fürsten Gremin (voluminöse Stimme: der Bassist Michael Heine) verheiratet und umschwärmter Mittelpunkt der St. Petersburger Gesellschaft ist. Reuig dreht Onegin den Spieß um und fleht sie an, mit ihm ein neues Leben zu beginnen. Doch die kurzzeitig zu Tränen der Erinnerung gerührte Tatjana weist Onegin energisch ab – und das nicht nur als pflichtbewusste verheiratete Frau...

Während die Matkas Larina (Christiane Oertel) und Filippewna (Margarita Nekrasova) Erdbeermarmelade einkochen, nascht Olga (Karoline Gumos, vorn) von der süßen Köstlichkeit und Tatjana (Asmik Grigorian) schlendert versonnen übers Grün.

Es braucht keine ungebändigte Wiese als zentrales Bühnenbild von Rebecca Ringst, auf historischen, rund einhundert Jahre alten Webstühlen und zum Teil in traditioneller Handarbeit in einem sächsischen Familienbetrieb aus Sisal hergestellt für den 1. Akt der „Onegin“-Neuinszenierung des Hausherrn Barry Kosky 2016 an der Komischen Oper Berlin, die derzeit gestreamt werden kann (halloherne berichtete). Es braucht auch keinen US-Straßenkreuzer als Mittelpunkt einer ganz heutigen Partygesellschaft im 3. Akt wie der Ford Mercury Komet in Tina Laniks Dortmunder Produktion im Jahr darauf.

„Gewöhnung schenkt uns der Himmel als Ersatz für das Glück“: Die Gutsbesitzerin Larina und die Amme Filipjewna (Almuth Herbst) müssen auch nicht Früchte zu Marmelade einkochen, wenn sie sich über vergangene Liebschaften und vertane Chancen auslassen, immer im Blick die beiden naschenden Schwestern im heiratsfähigen Alter, Olga und Tatjana.

In der nach „Die Jungfrau von Orleans“ (1995) und „Pique Dame“ (2014) seit Jahrzehnten erst dritten und daher längst überfälligen Tschaikowski-Produktion am Gelsenkirchener Musiktheater durch den musikalischen Leiter Thomas Rimes und die Regieassistentin Rahel Thiel genügt eine Reduktion des Bühnenbildners Dieter Richter auf das Wesentliche vollauf, um Stimmungen zu erzeugen und die Phantasie des Publikums anzuregen. Ein Birkenwald-Panorama verdichtet sich atmosphärisch zum Garten des Larinschen Landsitzes, der Negativ-Abzug des gleichen Bildes im 2. Akt zur frühmorgendlichen Winterlandschaft, in welcher der ahnungsvolle Lenski sein Leben aushaucht. Den hier völlig nahtlosen Übergang zum Greminschen Ballsaal, die Pause des 160minütigen Abends ist klug gelegt mitten in den 2. Akt zwischen Tatjanas Namenstagsfeier und dem Duell, markieren lediglich drei vom Schnürboden heruntergelassene Kronleuchter.

Rahel Thiel, Leipzigerin des Jahrgangs 1990, die 2016 mit Benjamin Brittens „The Turn of the Screw“ eindrucksvoll am MiR debütierte und im Jahr darauf Eduard Künnekes Operette „Der Vetter aus Dingsda“ als Kammerspiel im Altenheim verhunzte, konzentriert sich ganz auf die eigentliche Hauptfigur der Oper, Tatjana. Tschaikowski hat die Tragödie um erste große Liebe, Freundschaft, Enttäuschung, Rache und Schuld mit seinem Freund Konstantin Schilowski nach dem ab 1825 publizierten Versroman „Jewgeni Onegin“ Alexander Puschkins für das Musiktheater bearbeitet - mit heiter-volkstümlichen Melodien im ersten und dramatisch-aufwühlenden Gefühlsausbrüchen im zweiten und dritten Akt.

Rahel Thiel verlegt diese gerade auch musikalisch herzerwärmend-melancholische Oper in das Innenleben der beiden völlig konträren Protagonisten Tatjana und Onegin, deren einziges Duett bereits ganz vom Abschied geprägt ist. Sie macht sich Tschaikowskis Identifikation mit Tatjana zu eigen: Selbst der einmal mehr großartige Opernchor offenbart am Ende des 2. Aktes stumme Missbilligung für Onegin („Aber ich bin nicht fürs Eheglück gemacht“) und gestische Empathie für die Zurückgewiesene. Diesem Realismus der Figuren und ihrer Gefühle entspricht die 2013 für das Deutsche Nationaltheater Weimar arrangierte Kammermusikfassung von Andre Kassel für ein Streichquartett, Akkordeon, Klavier, Celesta und Drumset.

Das Parkett im Kleinen Haus des MiR ist durch einen Laufsteg, der Bühne und Rang miteinander verbindet, zweigeteilt. Links beansprucht die Neue Philharmonie Westfalen die ersten Reihen, die Instrumentierung geht u.a. mit Holz- und Blechbläsern über die Vorgaben Kassels hinaus. Musiker, Chor und Gesangssolisten sorgen für einen unmittelbaren, bisweilen überwältigenden Raumklang in einem Raum, der akustisch für Opernaufführungen höchst ungeeignet erscheint. Weshalb Andre Kassels Kammerfassung schon am rechten Ort aufgeführt wird. Sie kann freilich Tschaikowskis Original nicht im Ansatz ersetzen, was auch die enorme Bühnenpräsenz aller Beteiligten mitten im Publikum nicht ausgleicht. Allen voran die herausragende Sopranistin Bele Kumberger, die anschließend als Woglinde im „Rheingold“ des Intendanten Michael Schulz am MiR sowie als Blumenmädchen im Bayreuther „Parsifal“ genossen werden konnte.

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  • Freitag, 15. Mai 2020, um 19:30 Uhr
  • Freitag, 22. Mai 2020, um 19:30 Uhr
Dienstag, 12. Mai 2020 | Quelle: Pitt Herrmann