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Theater Essen: Verstehen sich gut: Linda Schell (Olga Prokot) und ihr neunjähriger Sohn Oskar (Trixi Strobel).

Foer-Bestseller am Schauspiel Essen

Extrem laut und unglaublich nah

Oskar Schell (ein Ereignis: Trixi Strobel) ist neun Jahre alt. Und hat schon eine Visitenkarte, auf der er sich u.a. als Pazifist, Erfinder, Schmuckdesigner, Origamist und Sammler von Halbedelsteinen ausweist. Vor allem aber ist er beschämt, ja geradezu traumatisiert, weil er glaubt, seinen Vater am „allerschlimmsten Tag“, dem 11. September 2001, im Stich gelassen zu haben. Welcher beim Anschlag der auch aus Deutschland eingereisten Islamisten in den Twin Towers des New Yorker World Trade Centers ums Leben kam.

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Immer wieder hatte Thomas Schell (im Gegensatz zur Vorlage nur als Stimme: Stefan Diekmann) in der letzten Stunde seines Lebens verzweifelt versucht, seine Familie telefonisch zu erreichen – und mehrfach auf den Anrufbeantworter gesprochen. Vergeblich, obwohl Oskar daheim neben dem Telefon stand, den Hörer aber einfach nicht abnehmen konnte. Was der völlig verstörte Junge danach seinen Liebsten, der Großmutter (Janina Sachau) und vor allem seiner Mutter Linda (Olga Prokot), nicht gestehen konnte.

Theater Essen: Stammen aus Dresden, haben sich in New York gefunden: Oskars Großeltern (Janina Sachau und Rezo Tschchikwischwili).

Zufällig entdeckt Oskar auf dem Boden einer im Schrank gelagerten Vase in einem kleinen Kuvert mit der Aufschrift „Black“ einen Schlüssel, der zu einem Schließfach oder Tresor passen könnte. Die geheimnisvolle Hinterlassenschaft seines Vaters, dessen Überreste man in den Trümmern nicht hat bergen können, weshalb ein leerer Sarg im Grab Thomas Schells liegt, elektrisiert den Jungen, der eine kleine Möglichkeit der Wiedergutmachung seiner vermeintlichen Schuld sieht.

472 Personen namens Black verzeichnet das New Yorker Telefonbuch. In jeder freien Minute und an den Wochenenden macht sich Oskar auf die Suche nach dem zum Schlüssel passenden Schloss. Bald wird er bei seiner Odyssee durch alle fünf Boroughs genannte Stadtteile von einem betagten, kriegsversehrten Nachbarn begleitet, der ebenfalls Black heißt (Jan Pröhl) und die Wohnung zuvor 24 Jahre lang nicht verlassen hat.

Von den Begegnungen mit vielen ungewöhnlichen Menschen ragt gleich die erste heraus – mit der 48-jährigen Abby Black (Olga Prokot), die gerade von ihrem Gatten William (Jan Pröhl) verlassen wird. Weshalb sie nicht gleich damit herausrückt, dass sie durchaus mehr weiß über den Schlüssel. Ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter Linda Schells wird Oskar erst acht Monate später hören…

Parallel zur Suchaktion des Jungen erzählt der am 21. Februar 1977 in Washington D.C. geborene amerikanische Schriftsteller Jonathan Safran Foer in seinem zweiten, 2005 erschienenen Roman „Extremely Loud & Incredibly Close“ die Geschichte von Oskars Großeltern in Briefform. Sie verbindet „Nine Eleven“ mit dem Kriegsverbrechen der strategisch-militärisch völlig sinnlosen anglo-amerikanischen Bombardierung Dresdens in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945.

Der Bestseller, noch im gleichen Jahr unter dem Titel „Extrem laut und unglaublich nah“ bei Kiepenheuer & Witsch in Köln in deutscher Übersetzung auf 437 Seiten erschienen, ist 2011 von Stephen Daldry mit Tom Hanks, Thomas Horn und Sandra Bullock in den Hauptrollen verfilmt worden. Für seine nach „Alles ist erleuchtet“ erneut grandiose Foer-Bühnenadaption am Schauspiel seiner Heimatstadt Essen, umjubelte Premiere war am 4. März 2022, hat sich der Regisseur Thomas Ladwig entschieden, die Briefform dialogisch-szenisch aufzulösen, aber auch mit retrospektiven, erzählenden Monologen des für Oskar nur als seltsamer Untermieter seiner Oma existierenden, scheinbar stummen Großvaters (Rezo Tschchikwischwili). Am Ende wird dieser zusammen mit Oskar die ungelesenen Briefe im leeren Sarg des Vaters „beerdigen“.

Binnen zwei pausenloser Stunden ist es Thomas Ladwig mit seinem eingespielten Team aus Ulrich Leitner (Bühne) und Anita Noormann (Kostüme) gelungen, dem gebannten Publikum in der intimen Nebenspielstätte Casa die personenreiche, durch zahlreiche Nebenstränge vielfach verschachtelte Vorlage nicht nur verständlich, sondern auch sinnlich erfahrbar zu machen. Zentrale Szenen werden kurz rekapituliert, fließende Übergänge zwischen Erzählung und Spiel geschaffen, bei Romanadaptionen häufig „der“ Knackpunkt, und der Multimedia-Einsatz hält sich in engen Grenzen. Naturgemäß ragt die frappante Bühnenpräsenz der 1997 in München geborenen Ernst-Busch-Absolventin Trixi Strobel heraus. An ihrer Seite ein vierköpfiges Ensemble voller Spielfreude, das auch im atmosphärischen, simultan bespielbaren Einheitsbühnenbild samt Großvaters Zettel-Mobile nahtlos Rollen und Spielorte wechselt.

Weitere Vorstellungen am 23. März 2022 sowie am 2. und 22. April 2022 im Casa genannten Studio des Schauspiel Essen neben dem Grillo-Theater. Karten unter theater-essen.de oder unter Tel 0201 – 81 22 200.

Montag, 7. März 2022 | Autor: Pitt Herrmann