
Free-TV-Premiere: Alles was kommt
Nathalie (Isabelle Huppert), Ende 50, ist Lehrerin für Philosophie an einem Pariser Lycée und sehr engagiert. In heißen Studentenzeiten gehörte sie für eine gewisse Zeit den Kommunisten an. Nun ist sie in weitaus ruhigeren Gefilden, im intellektuellen bürgerlichen Milieu angekommen. Der Beruf ist für sie Berufung: In einem kleinen Verlag publiziert sie quasi nebenbei eine eigene Lehrbuchreihe. Nathalie ist seit 25 Jahren mit Heinz (Andre Marcon) verheiratet, einem vergleichsweise ruhigen Gemütsmenschen. Der Kantianer und erklärte Karl-Kraus-Leser hat eine Professor für Philosophie an der Universität inne. In ihrem offenen Haus sind ihre beiden erwachsenen Kinder Chloe (Sarah Le Picard) und Johann (Solal Forte) ebenso gern zu Gast wie ihre Schüler – aktuelle und ehemalige, die jetzt studieren.
Obwohl sich Johann nicht gänzlich im Scherz darüber beklagt, in den Augen seiner Mutter nicht so hoch angesehen zu sein wie ihr einstiger Lieblingsschüler Fabien (Roman Kolinka), der gerade an seiner Philosophie-Doktorarbeit schreibt. Und auch Heinz so nebenbei eine Bemerkung fallen lässt, dass Fabien so etwas wie ein Ersatz-Sohn für Nathalie sei. Aber solche kleinen Sticheleien steckt sie als intellektuelles Geplänkel weg: Sie ist mit sich und ihrer Situation vollauf zufrieden und braucht sich ja schließlich auch keine Sorgen um ihre Zukunft zu machen – und finanzielle schon gar nicht.
Doch dann kommt es plötzlich ganz dicke. Von seinen Kindern vor die Wahl gestellt, es seiner Gattin selbst zu gestehen oder sie würden das übernehmen, eröffnet Heinz einer völlig perplexen Gattin, nicht nur seit geraumer Zeit eine wesentlich jüngere Geliebte zu haben, sondern diese Liaison nun legalisieren zu wollen – mittels Scheidung und erneuter Hochzeit. Wenig später wird Nathalie in den Verlag gebeten, um einem kompletten Relaunch ihrer Reihe zuzustimmen: die äußere Gestaltung ihrer Bücher sei zu altbacken, da müssten auffallendere gestalterische Elemente und vor allem mehr Farbe her. Als Nathalie zu bedenken gibt, dass sie keine Bestseller schreibe sondern wissenschaftliche Literatur, ist sie draußen: die Gesetze der Marktwirtschaft machten auch vor der Philosophie nicht halt.
Weil alle schlechten Dinge drei sind ist es die Feuerwehr nach drei Fehlalarmen binnen einer Woche endgültig leid, von Nathalies exzentrischer Mutter Yvette (Edith Scob) belästigt zu werden. Es bleibt wohl keine andere Wahl, als sie ins Altersheim zu stecken, wenn Nathalie nicht Tag und Nacht von ihr auf Trab gehalten werden will. Was tun? Sie ist fest entschlossen, erhobenen Hauptes allen plötzlichen Widerständen ihres bisher so ruhig dahinplätschernden Lebens zu trotzen – und vor allem offen zu bleiben für alles, was kommt…
In ihrem fünften Spielfilm „Alles was kommt“, der auf der 66. Berlinale uraufgeführt und mit dem Silbernen Bären für die „Beste Regie“ ausgezeichnet wurde, reflektiert die 1981 in Paris geborene Drehbuchautorin und Regisseurin Mia Hansen-Løve über das beginnende Altern. In ihrem intensiven, aber auch ironischen Frauenporträt geht es um Fragen des individuellen Glücks, um Beruf und Berufung und den Sinn oder Unsinn gefestigter Strukturen. Isabelle Huppert verkörpert Nathalies Suche nach neuen Wegen subtil changierend zwischen Trotz und Traurigkeit, Stärke und Zerbrechlichkeit.
Auf einer zweiten Ebene, in der deutschen Synchronfassung jedoch kaum zu erahnen, geht es auch um philosophische Fragen und darum, inwieweit Philosophie auf den Alltag angewandt werden kann. Neben den Werken von Emmanuel Levinas (1906-1995) spielt der französische Philosoph und Musikwissenschaftlers Vladimir Jankelevitch (1903-1985) eine Hauptrolle: Dietrich Fischer-Dieskau singt Lieder von Franz Schubert und Nathalie liest kurz nach der Trennung von ihrem Gatten aus dessen philosophischem Hauptwerk „Der Tod“.
Es gibt eine Menge zu entdecken in „Alles was kommt“, als Free-TV-Premiere am Montag, 19. November 2018, um 20.15 Uhr auf Arte zu sehen (und sieben Tage in der Arte-Mefiathek). Aber es reicht auch vollkommen, sich allein der großartig unspektakulären Isabelle Huppert zu widmen. Die den sinnlichen Bildern des Kameramannes Dennis Lenoir von den Bücherwänden im Haus des Philosophen-Paares, vom Meeresrauschen in der Bretagne, von Nathalies Foucault-Unterricht unter freiem Himmel im Park oder von den französischen Alpen nur mit einem Blick, einer kleinen Geste trotzt.