
Stream und Live-Theater am Schauspiel Essen
Früchte des Zorns
Noch in dieser Woche nimmt das Schauspiel Essen mit zwei Premieren den Spielbetrieb noch vor der Sommerpause wieder auf. Am Donnerstag, 3. Juni 2021, um 19 Uhr die Premiere „Fünf gelöschte Nachrichten“ von Falk Richter in der Casa, in der Inszenierung von Damian Popp spielt Dennis Bodenbinder. Und am Samstag, 5. Juni 2021, um 19:30 Uhr die Premiere „Bunbury – Ernst ist das Leben“ von Oscar Wilde in der deutschen Fassung von Elfriede Jelinek im Grillo-Theater, Regie führt Susanne Lietzow. Der Besuch einer Vorstellung ist auf Basis der aktuellen Verordnung nur für Personen mit einem bestätigten negativen Schnelltest, für vollständig Geimpfte oder nachweislich Genesene möglich. Die Besucherkapazität des Grillo-Theaters und der Casa berücksichtigt ausdrücklich die gebotenen Abstandsregeln: Die Zuschauersäle haben jeweils eine Kapazität von maximal 25 Prozent und verfügen über ein modernes, leistungsstarkes und zertifiziertes Belüftungssystem, welches das Infektionsrisiko überdies minimiert.
Früchte des Zorns

„Die Ursachen liegen tief – und sind einfach - die Ursachen sind Hunger im Bauch, millionenmal verfielfacht, Hunger in der Seele, Hunger nach Freude und ein wenig Sicherheit, millionenmal verfielfacht“: John Steinbecks 1939 bei Viking in New York erschienener Roman „The Grapes of Wrath“ spielt in den 1930er Jahren. Zum einen haben Dürreperioden und in ihrer Folge Missernten dazu geführt, dass viele Farmer ihre Kredite bei der Bank nicht mehr bedienen können. Zum anderen schreitet die Mechanisierung der Landwirtschaft rasend fort: immer mehr Traktoren lösen die Handarbeit ab. Farmer werden zu Geschäftsleuten, die höchstens in der Erntezeit kurzfristig noch Saisonarbeiter einstellen können. Die monokulturell bewirtschafteten Flächen müssen mit Fortschreiten der Industrialisierung in der Lebensmittelproduktion immer größer werden, um sich angesichts des Chemieeinsatzes zu rentieren.
„Die Traktoren, die den Menschen vom Land verjagen und ihm die Arbeit nehmen, die laufenden Bänder, die Lasten tragen, die Maschinen, die produzieren – das alles wurde verbessert, vergrößert und verstärkt, und immer mehr Familien zogen über die Straßen, suchten nach Krumen, die von den großen Besitzungen für sie abfallen mochten, gierten nach dem Land am Rande der Straßen“: Als Handzettel verteilt werden, auf denen steht, dass in den großen Obst- und Gemüseplantagen Kaliforniens Erntehelfer gesucht werden, machen sich in Oklahoma Hunderttausende mittelloser Farmer und Arbeiter auf den Weg nach dem angeblich goldenen Westen – stets entlang der Route 66.
Darunter auch die vielköpfige Familie Joad mit den Großeltern (Ines Krug und Sven Seeburg), den Eltern (Silvia Weiskopf und Jan Pröhl), den erwachsenen Söhnen Tom (Alexy Ekimov) und Al (Dennis Bodenbinder), der schwangeren Tochter Rosasharn, genannt Rose (Lene Dax), und ihrem Gatten Connie Rivers (Stefan Migge) sowie Onkel John (Thomas Büchel). Im 500-Seiten-Roman, der bereits ein Jahr später unter dem Titel „Früchte des Zorns“ in deutscher Übersetzung von Klaus Lambrecht in Zürich erschien, gehören noch der Erstgeborene Noah sowie die kleinen Kinder Ruthie und Winfried zur Familie, die zudem vom Priester Jim Casey und zeitweise einem älteren Ehepaar begleitet wird.
Schon auf dem Weg ins gelobte Land müssen die Joads bitter erfahren, dass sie als unerwünschte „Ausländer“ aus Oklahoma ausgegrenzt, als „Okies“ beschimpft und von der Polizei verfolgt werden: „Aber diese gottverdammten Okies haben keinen Verstand und kein Gefühl. Sie sind überhaupt keine Menschen. Ein Mensch könnte gar nicht so leben wie sie. Ein Mensch könnt‘ es auch gar nicht aushalten, so dreckig und elend zu sein. Die sind nicht viel besser wie die Affen.“ Worte eines Tankstellenbetreibers an der Route 66, die einem heutigen Leser nur allzu bekannt vorkommen. Weshalb „Früchte des Zorns“ in dramatisierter Fassung so etwas wie das Stück der Stunde ist: Von Christopher Rüpings Inszenierung in Zürich (mit der heuer gleich zweimal beim Berliner Theatertreffen vertretenen Herner Schauspielerin Maja Beckmann) über die Fassungen von Rafael Sanchez in Köln und Milan Peschel in Dortmund bis hin zu Hermann Schmidt-Rahmer in Essen.
John Steinbeck, in Kalifornien aufgewachsener Erzähler deutsch-irischer Abstammung, erhielt für seinen in den USA bis hin zu öffentlichen Bücherverbrennungen stark angefeindeten Roman 1940 den Pulitzer-Preis. Schauspieler filmen sich gegenseitig, die Drehbühne offenbart die Kulissenhaftigkeit des Spielortes: Hermann Schmidt-Rahmer hat, mit Mitteln der legendären Multimedia-Ästhetik Frank Castorfs an der Berliner Volksbühne, den mit biblischen Anspielungen gespickten Naturalismus des Romans ebenso tunlichst vermieden wie den sentimentalen Realismus der 1940er Verfilmung von John Ford mit Henry Fonda, geadelt mit zwei Oscars für die Regie und Jane Darwill (als Mutter) in der Kategorie „Beste Nebenrolle“.
Im Einheitsbühnenbild von Thilo Reuter, dem Querschnitt eines zweigeschossigen Hauses, agieren Angehörige einer im Grunde wohlsituierten Mittelschicht (Kostüme: Pia Maria Mackert). Kein klappriger Lkw, dessen Kühler ständig heiß läuft, steht auf dem Hof, sondern eine moderne Limousine unserer Zeit. Wenn von Ausbeutung bei der Baumwoll-Ernte die Rede ist, flimmern über die beiden großen Flachbildschirme Flüchtlingsszenen unserer Tage. „Hier geht nichts mehr, das Land ist hin“ sinniert der Großvater auf dem chicen Designer-Sofa, links daneben die Schachtel einer Tiefkühl-Pizza.
Der optische Eindruck steht im krassen Widerspruch zum akustischen, zum häufig wörtlich aus der Romanvorlage übernommenen Text: Nur keine Mitleids-Dramaturgie im Parkett. Sondern achtzig Jahre später diesseits des Großen Teichs Nachdenken über das eigene Verhalten Flüchtlingen und Aylsuchenden gegenüber. „Jeder kann hingehen, wohin er will“ schallt es in Endlosschleife aus dem Off, während die neun Schauspieler ständig in neue Episodenrollen von Händlern, Polizisten, Restaurant- und Länderei-Besitzern wechseln. Und damit dem akustischen Loop widersprechen. Am bitteren Ende, nach Rosaharns Totgeburt, keine versöhnliche Umkehrung des christlichen Pietà-Motivs wie im Roman: Alles auf Anfang. Von Steinbecks Hoffnung eines Aufstandes der „Armee der Bitterkeit“ keine Spur. Weißblende.
Eigentlich war die Premiere von Hermann Schmidt-Rahmers Inszenierung „Früchte des Zorns“ für Ende April 2021 im Essener Grillo-Theater geplant. Wegen des anhaltenden Pandemiegeschehens kann sie letztendlich nicht live über die Bühne gehen und wird in die nächste Spielzeit verschoben. Damit das Publikum nicht ganz auf die Aufführung in dieser Saison verzichten muss, ist die Produktion von den Wuppertaler Siegersbusch-Profis im Grillo-Theater aufgezeichnet worden – mit genrespezifischen Mitteln etwa dem Framing (Bildausschnitt) von der Totalen bis zum Close-Up und sogar, bei Thomas Büchel, zum Italian Shot. Einschließlich der Videografie von Alexandra Costa Pinto und den Videos von Markus Heese. „Früchte des Zorns“ sind am 6., 11. und 18. Juni 2021 jeweils ab 19 Uhr für jeweils 24 Stunden auf dem Streaming-Portal dringeblieben.de zu sehen. Weitere Informationen über die Homepage des Schauspiels Essen.
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- Donnerstag, 3. Juni 2021, um 19 Uhr
- Samstag, 5. Juni 2021, um 19:30 Uhr