
„Der Wendepunkt“ am Rottstr5Theater
Hochaktueller Lebensbericht von Klaus Mann
Klaus Mann (Sven Gey) erhebt sich aus einem Sessel in der ersten Reihe des Bochumer Rottstr5Theaters, der intimen Spielstätte in den Eisenbahnbögen unter der Glückauf-Bahn: „Es ist kein Verlass auf die Erinnerung.“ Und: „Das Erinnerungsvermögen ist ein problematisches und fragiles Bollwerk.“ Er blickt zurück auf seine „unzertrennlichen, und dabei so grundverschiedenen Eltern“, auf seinen jüngeren Bruder Golo Mann, der es mit ihm nicht immer leicht gehabt habe. Und auf Tante Clara, die sich mit Gift umgebracht hat: „Bezähme deine Neugier, solange du irgend kannst! Versuche nicht, den Geheimnissen der Erwachsenen auf den Grund zu kommen!“ Denn: „Wissen ist unfruchtbar, es bringt kein Glück.“
Sven Geys Ich-Erzähler schildert die Atmosphäre von 1914 vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dessen Verlauf aus der Perspektive des Acht- bis Zwölfjährigen, der schon Propaganda von der Wirklichkeit zu unterscheiden gelernt hat. Und stellt entscheidende Fragen: Wer hat den Krieg gewollt? Wer hat sich an ihm bereichert? Die Erwachsenen, so scheint es Klaus Mann in der Rückschau, haben sich mehr für Kunst und Musik interessiert als für Politik, Parteiprogramme oder Wahlen.
Faszination Adolf Hitler
„Der Dollar steigt – lassen wir uns fallen! Warum sollten wir stabiler sein als unsere Währung? Die deutsche Reichsmark tanzt: wir tanzen mit!“: Die Berliner Haute Volée vergnügt sich Mitte der 1920er Jahre beim Foxtrott im Palace-Hotel. Klaus Mann fragt – auch sich selbst – nach den Gründen für die Faszination Adolf Hitlers. Und sieht seinen eigenen Beitrag zur Rettung der Demokratie in der Weimarer Republik höchst kritisch: „Was tat ich selber zur Besserung und zum Schutz unserer so sehr schutz- und besserungsbedürftigen Demokratie? Wo war mein eigener Beitrag zur Rettung der gefährdeten Republik? Welcher kämpferischen Tat oder sozialen Leistung könnte ich mich rühmen?“ Was die politisch-moralische Verantwortung der Literaten der Zwischenkriegszeit betrifft, steht er freilich nicht allein.
„Leicht zerstörbar sind die Zärtlichen“: Hölderlin zitierend spricht Klaus Mann über eine Welle von Selbstmorden im Kreis seiner Freunde und Verwandten. Privates findet nur kurz Erwähnung, so seine Beziehung zum jungen surrealistischen Dichter René Crevel in Paris – „halb Erzengel, halb Boxer“. Nur eine Zwischenstation, bevor es per Schiff ins New Yorker Exil geht: „Heimatlos“ und „entwurzelt“ habe er sich in Amerika gefühlt. Und nach dem Krieg? „Es gibt keine alte Heimat, in die man zurückkehren konnte, auch keine neue.“
„Das große Umsonst. Wofür?“: Thomas Manns ältester Sohn, am 18. November 1906 in München geboren, hat sich am 21. Mai 1949 durch eine Überdosis Schlaftabletten in Cannes das Leben genommen, gequält von Schreibblockaden, einer langjährigen Heroin-Abhängigkeit und politischer Desillusionierung.
'Geschichte eines Intellektuellen zwischen zwei Weltkriegen'
„Was für eine Geschichte ist es denn, die ich zu erzählen habe? Die Geschichte eines Intellektuellen zwischen zwei Weltkriegen, eines Mannes also, der die entscheidenden Lebensjahre in einem sozialen und geistigen Vakuum verbringen musste: innig – aber erfolglos – darum bemüht, den Anschluss an irgendeine Gesellschaft zu finden, sich irgendeiner Ordnung einzufügen: immer schweifend, immer ruhelos, umgetrieben, immer auf der Suche…“: „Der Wendepunkt“, Klaus Manns „Lebensbericht“, der auf Deutsch posthum 1952 erschien, gehört sicherlich zu den schönsten Autobiographien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Und zeitgeschichtlich zu den bedeutendsten, weil persönlichsten Zeugnissen. Beginnend bereits mit dem Prolog, in dem der Sohn Thomas Manns die allein von seiner Sprache faszinierte Leserschaft in die Geschichte seiner Familie einführt. Klaus Manns Erinnerung, in zwölf Kapiteln von „Mythen der Kindheit, 1906 – 1914“ bis „Der Wendepunkt, 1943 – 1945“ unterteilt, ist der Spiegel eines ungewöhnlichen Lebens – und eine glänzend geschriebene Schilderung von Zeit- und Kulturgeschichte.
Autobiographie zu einer gut sechzigminütige Spielfassung destilliert
Maria Trautmann hat aus Klaus Manns 690 Seiten starker Autobiographie eine gut sechzigminütige Spielfassung destilliert, die 2016 im Maschinenhaus der ehemaligen Zeche Carl in Essen uraufgeführt worden ist und seit geraumer Zeit auf dem Spielplan des Bochumer Rottstr5 Theaters steht – in der Urbesetzung mit dem Kölner Theater-, Film- und Fernsehschauspieler Sven Gey („Marie Brand“, „Tatort“, „Wilsberg“) und dem Kontrabassisten Moritz Götzen.
Maria Trautmann, die den hochkonzentrierten, bis auf eine Sektflasche und zwei Gläser ohne Requisiten auskommenden Abend auch inszeniert hat, stellt vor dem Hintergrund leider wieder sehr aktueller Ereignisse Klaus Manns Frage, wie es zum Dritten Reich kommen konnte, während die ganze demokratische Welt nur zuschaute, in den Mittelpunkt. „Der Wendepunkt“ steht wieder am Sonntag, 28. Januar 2024, um 19:30 Uhr auf dem Spielplan der ambitionierten Off-Bühne an der Rottstraße 5 in Bochum, Karten unter rottstr.de oder Tel. 0163 – 761 50 71.
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- Samstag, 28. Januar 2023, um 19:30 Uhr