MiR sticht große Häuser aus
„Innocence“ in Deutscher Erstaufführung
Ines Nadlers zweigeschossige Bühne, ein moderner (Schul-) Zweckbau, füllt sich zu den ersten Klängen von „Innocence“, Kaija Saariahos letztem Musiktheaterwerk, das am 28. September 2024 seine sehr zu Recht mit Ovationen gefeierte Deutsche Erstaufführung am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier erlebte, allmählich mit den Protagonisten, unter ihnen hochkarätige Gäste.
Wie der am Kennedyplatz bereits bestens eingeführten isländischen Mezzosopranistin Hanna Dóra Sturludóttir, der australischen Sopranistin Katherine Allen, dem britischen Bariton Benedict Nelson, der in dieser Saison noch in „Hänsel und Gretel“ sowie „La Bohème“ weitaus bedeutendere Kostproben seines Könnens geben kann sowie der, man glaubt es kaum, bereits 30-jährigen Erika Hammarberg, einer finnischen Institution als (Volksmusik-) Sängerin, Komponistin, Tänzerin und Schriftstellerin.
Coup des scheidenden Intendanten
Es ist ein Coup, den der scheidende Intendant Michael Schulz zum Verdruss aller „großen“ Hauser der Republik landen konnte zum Saisonauftakt im Großen Haus: MiR-Rückkehrer Valtteri Rauhalammi, der immer noch jungenhafte finnische Dirigent, von 2012 bis 2017 in Kapellmeister in Gelsenkirchen ist inzwischen Professor an der Hochschule für Musik Dresden, und die Regisseurin Elisabeth Stöppler dürfen die nach der Uraufführung am 3. Juli 2021 beim Festival d‘Aix-en-Provence erste Neuproduktion in der angeblichen Ruhrgebiets-Provinz herausbringen.
„Innocence“, nunmehr mit dem Untertitel „(Un)schuld verjährt nicht“ versehen, ist ein wahrer Opern-Thriller nach dem so spannenden wie philosophischen Libretto der finnisch-estnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen: Zehn Jahre nach einem schrecklichen Massaker an einer Internationalen Schule in Helsinki, dem ein Lehrer und neun Schüler zum Opfer gefallen sind, kommen bis heute traumatisierte Überlebende, Schüler wie Lilly (Bele Kumberger), Anton (Sebastian Schiller) und Alexia (Danai Simantiri) sowie die Lehrerin Cecilia (Anke Sieloff), am Ort des blutigen Geschehens zusammen.
Kommentiert von einer Lebenden, der bisher unerkannt gebliebenen Mittäterin Iris (Elisa Marcelle Berrod), und einer Toten, der Schülerin Markéta (Erika Hammarberg), reflektieren die heute Erwachsenen das damalige Geschehen und lassen es in anderem Licht erscheinen: Mobbing und Missbrauch haben wesentlich zur Bluttat des minderjährigen Schulkameraden beigetragen, alle tragen eine Mitschuld.
Unerträglich glückliche Täterfamilie
Parallel findet eine Hochzeit statt: Tuomas (Khanyiso Gwenxane), der Bruder des Amokläufers, heiratet Stella (Margot Genet). Weil die ursprünglich vorgesehene Kellnerin erkrankt ist, springt Tereza (Hanna Dóra Sturludóttir) ein, die Mutter der erschossenen Markéta. Sie setzt, weil sie das Glück der Täterfamilie nicht ertragen kann, die ahnungslose Braut ins Bild. Was nicht nur bei Tuomas, sondern auch bei seinen Eltern (Katherine Allen und Benedict Nelson) eine Reaktion der Selbstbefragung bis hin zur Selbstbezichtigung auslöst…
„Innocence“ ist politisch brisanter Stoff gerade in unseren Zeiten grassierender populistischer Schwarzweißmalerei: Der Täter war auch ein Opfer und die Opfer sind auch (Mit-) Täter gewesen. Weshalb Elisabeth Stöppler gut daran tat, dem spektakulären Naturalismus der Urinszenierung Simon Stones im Grand Théâtre de Provence eine Absage zu erteilen: Die unerklärte MiR-Hausregisseurin („Rusalka“, „Don Quichotte“, „Gloriana“, „War Requiem“ und „Peter Grimes“, 2009 mit dem Götz-Friedrich-Preis und dem Förderpreis NRW ausgezeichnet, zuletzt „Norma“) hat analog zur bewussten Vielsprachigkeit des Librettos die universelle humanistische Dimension des Fünfakters herausgestellt.
Berührender Schluss
Kulminierend im berührenden Schluss: Die Mitglieder des renommierten Chorwerk Ruhr, die das gut hundertminütige Geschehen nicht kritisch kommentieren, sondern höchst melodisch mit Empathie begleiten, treten aus dem Schatten des Hintergrundes heraus, spenden musikalisch und gestisch Trost. Selbst Tereza setzt sich am Schluss zu Tuomas – und Markéta bittet: „Mama, lass mich los.“
Kaija Saariahos recht zarte, bisweilen geradezu schwebende Komposition zu dieser aufwühlenden Geschichte weist nur wenige expressive Ausbrüche auf. Dennoch bestimmen Sprache und Sprechgesang auch dieses zeitgenössische Musiktheater, bei dem das Primat deutlich auf der leider sehr aktuellen Geschichte liegt. Weshalb ein ständiger Blick auf die Übertitelungsanlage notwendig ist. Am Rande: Warum Frank Lichtenberg der Mittäterin Iris als Einzige ein Hoodie verpasst hat, in dem Elisa Marcelle Berrod von Beginn an wie eine Außenseiterin erscheint, erschließt sich mir nicht.
Die weiteren Aufführungen
- Samstag, 5. Oktober 2024, 19 Uhr
- Sonntag, 27. Oktober 2024, 16 Uhr
- Sonntag, 10. November 2024, 18 Uhr
- Sonntag, 1. Dezember 2024, 18 Uhr
- Sonntag, 29. Dezember 2024, 18 Uhr
- Samstag, 11. Januar 2025, 19 Uhr
- Sonntag, 16. Februar 2025, 18 Uhr
- Donnerstag, 20. März 2025, 19:30 Uhr
Karten
Karten ab 15 Euro an der Theaterkasse am Kennedyplatz in Gelsenkirchen (Montag und Samstag 10 bis 14 Uhr, Dienstag bis Freitag 10 bis 18.30 Uhr) im Netz unter musiktheater-im-revier.de oder unter Tel. 0209 – 40 97 200.
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- Samstag, 11. Januar 2025, um 19 Uhr
- Sonntag, 16. Februar 2025, um 18 Uhr
- Donnerstag, 20. März 2025, um 19:30 Uhr
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- Samstag, 5. Oktober 2024, um 19 Uhr
- Sonntag, 27. Oktober 2024, um 16 Uhr
- Sonntag, 10. November 2024, um 18 Uhr
- Sonntag, 1. Dezember 2024, um 18 Uhr