
Die Schutzbefohlenen – Was danach geschah (2024)
Jelinek-Uraufführung in Bochum
„Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als leben nach Verlassen der heiligen Heimat. Keiner schaut gnädig herab auf unseren Zug, aber auf uns herabschauen tun sie schon. Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier. Wir versuchen, fremde Gesetze zu lesen. Man sagt uns nichts, wir erfahren nichts, wir werden bestellt und nicht abgeholt, wir müssen erscheinen, wir müssen hier erscheinen und dann dort, doch welches Land wohl, liebreicher als dieses, und ein solches kennen wir nicht, welches Land können betreten wir? Keins.“
So beginnt der erste, „Introduktion“ genannte Teil von Elfriede Jelineks austriakisch-galliger Realsatire „Die Schutzbefohlenen - Appendix / Coda / Epilog“, geschrieben 2013 nach skandalösen Ereignissen rund um die Wiener Votivkirche, wo sich Staat, Gesellschaft und Kirche ein Bubenstück besonderer Art im Umgang mit aus dem berüchtigten Lager Traiskirchen in die Donaumetropole geflüchteten „Asylwerbern“ geleistet haben.
Selbstquälerische Hassliebe
Verfasst in Thomasbernhardscher Manier, also in selbstquälerischer Hassliebe, beklagt die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin darin das Schicksal der in der Alpenrepublik „Refugees“ genannten Flüchtlinge, die, von offenen Anfeindungen aus der angeblichen Mitte der Gesellschaft einmal ganz abgesehen, einem geradezu kafkaesken bürokratischen Hürdenlauf ausgesetzt sind. Diesem stellt Elfriede Jelinek die Turbo-Einbürgerung zweier prominenter Russinnen gegenüber, denen aus künstlerischen und wirtschaftlichen Gründen ein VIP-Bonus gewährt wurde. Nach der Urinszenierung von Nicolas Stemann im Jahr darauf am Hamburger Thalia-Theater kam das appellativische Polit-Drama am 9. April 2016 in einer Neuinszenierung Hermann Schmidt-Rahmers in den Bochumer Kammerspielen heraus.
„Wir leben. Wir leben. Hauptsache, wir leben, und viel mehr ist es auch nicht als Leben nach Verlassen der heiligen Heimat“: So beginnt mit Michael Lippold ein neuer Text Elfriede Jelineks, der am 2. Juni 2024 auf dem Vorplatz des Schauspielhauses Bochum heftig umjubelte Uraufführungs-Premiere feierte in der Inszenierung des Intendanten Johan Simons: „Die Schutzbefohlenen - Was danach geschah (2024)“. Es ist eine 37-seitige, zum Teil wörtliche Übernahme des zehn Jahre alten Textes, überschrieben mit den Enthüllungen einer „Correctiv“-Recherche über verbrecherische Pläne von Unternehmern, Neonazis und (AfD-) Politikern zur Vertreibung von Menschen aus Deutschland.
Geheimtreffen in Potsdam
Die hatten auf einem informellen Treffen in einem Landhotel in Potsdam über den Geheimplan zur Gründung eines aus Spenden finanzierten Lagers in Afrika gesprochen, in das nicht nur Einwanderer, Flüchtlinge und Vertriebene, sondern auch deutsche Staatsbürger mit migrantischem Hintergrund zwangsweise abgeschoben werden sollen: „Zurück in die Wüste. Da ist noch Platz“ skandiert Jele Brückner.
Die beiden Bochumer Ensemblemitglieder gehören zu einem vielköpfigen, mit (Amateur-) Darstellern aus dem ganzen Ruhrgebiet gebildeten Gruppe, die als „Heilige, außer Dienst gestellt“ die Treppe vor dem Schauspielhaus bevölkert, nur viel statischer als etwa Hugo von Hofmannsthals „Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ allsommerlich auf der Treppe des Salzburger Doms.
Szenische Lesung
Im Grunde genommen kommt Simons‘ rund einstündige Inszenierung, die in der kommenden Spielzeit in die Kammerspiele wandert, nicht über eine szenische Lesung hinaus. Will sie freilich auch gar nicht: Sie versteht sich als affirmativer Beitrag zur Europawahl, als „ein vielstimmiges Wir“ derjenigen, die nun im Fokus der Vertreibungspläne stehen: „Stimmen, die angesichts der Vorurteile, der Voreingenommenheit und der Rassismen, die sie seit ihrer Ankunft erfuhren, die westlichen Grundwerte an der Realität messen“, so Dramaturgin Angela Obst.
„Die werden sich ein Teil von Afrika kaufen – und dann werden sie uns kaufen“: Elfriede Jelineks wie gewohnt sprachmächtige Vorlage ohne Punkt und Komma zu Stichworten wie Ausgrenzung, Abschiebung und Remigration mit ständigen Wiederholungen der Kernaussagen wird ergänzt durch einige (Playback-) Songs aus den Herkunftsländern der Darsteller. „Kein Grund – kein Grundgesetz, kein Bürger – keine Bürgerrechte“: die „Intervention vieler Stimmen in die Stadt“ wird in dieser Spielzeit noch viermal aufgeführt bei freiem Eintritt. Da nur eine sehr begrenzte Zahl von Sitzgelegenheiten zur Verfügung steht, ist frühes Erscheinen notwendig, besser ist das Mitbringen eines eigenen Klappstuhls. Bei schlechten Wetterverhältnissen finden die Vorstellungen im Schauspielhaus statt.
Die weiteren Vorstellungen
- Dienstag, 4. Juni 2024, 19:30 Uhr
- Sonntag, 9. Juni 2024, 11 Uhr
- Mittwoch, 19. Juni 2024, 19:30 Uhr
- Mittwoch, 26. Juni 2024, 19:30 Uhr
Vergangene Termine (4) anzeigen...
- Dienstag, 4. Juni 2024, um 19:30 Uhr
- Sonntag, 9. Juni 2024, um 11 Uhr
- Mittwoch, 19. Juni 2024, um 19:30 Uhr
- Mittwoch, 26. Juni 2024, um 19:30 Uhr