
Kleindarsteller liebt Tanzdouble
Kino Tipp: Traumfabrik
Das Defa-Filmstudio in Potsdam-Babelsberg im Sommer 1961: ein magischer Ort in kreativer Aufbruchstimmung. Im Jahr 15 des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden entstehen in den heiligen Hallen der einstigen Universum Film AG (Ufa), in denen nach ikonischen Stummfilmen wie Der Golem, Nosferatu und Doktor Mabuse die ersten Tonfilme, Melodie des Herzens und Der blaue Engel, die Goldenen Zwanziger begründeten, internationale Koproduktionen mit Stars aus ganz Europa und Übersee.
In historischen und neuerbauten Großateliers dreht die Deutsche Film AG (Defa), eine Mitte Mai 1946 gegründete deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft, die großen Erfolge des ersten Studioleiters Wolfgang Staudte wie Die Mörder sind unter uns mit Hildegard Knef oder die Heinrich-Mann-Literaturverfilmung Der Untertan mit Werner Peters. Vor und hinter der Kamera arbeiten ganz selbstverständlich West- und Ost-Berliner an häufig mehreren Projekten gleichzeitig. Als der frisch aus der Nationalen Volksarmee der DDR entlassene Emil Hellwerk (Dennis Mojen) vor dem großen Torbogen der traditionsreichen Traumfabrik steht, erklärt ihm sein älterer Bruder Alex (Ken Duken), im Studio als Stuckateur beschäftigt, dass gerade acht Filme parallel gedreht werden.
Was die Rummelatmosphäre in der Filmstadt erklärt, wo Schauspieler und Komparsen, Techniker und Assistenten, aber auch ein Kamel und eine ganze Herde schnatternder Gänse die Studiogassen bevölkern. Emil, der mit dieser verwirrend bunten Welt des Scheins eigentlich nichts anfangen kann, bekommt einen Mini-Job als gesichtsloser Kleindarsteller in einer klassischen Mantel-und-Degen-Historie. Bei einer Beleuchtungsprobe des Piratenfilms rückt er freilich ins Rampenlicht – an der Seite einer wunderschönen jungen Frau, die er für die französische Hauptdarstellerin Beatrice Morée (Ellenie Salvo Gonzáles) hält. Und der er, statt der Andeutung eines Filmkusses, einen richtigen Kuss auf die Lippen drückt. Was, wie es Defa-Generaldirektor Beck (Heiner Lauterbach) später ausdrückt, eine Schneise der Zerstörung nach sich zieht.
Es hat den sogleich zum Gänse-Hütejungen degradierten Emil voll erwischt, auch wenn sich herausstellt, dass es sich bei dem attraktiven Mädchen nur um das französische Tanzdouble Milou (Emilia Schüle) handelt, die für Frankreichs derzeit größten Filmstar Beatrice arbeitet - als stets herumkommandiertes Mädchen für alles. Sie wohnt wie deren gesamte Entourage, zu der auch Beatrices Muse, der schnöselige Schönling Omar (Nikolai Kinski), gehört, im West-Berliner Savoy-Hotel. Weshalb es Emil einige Anstrengung kostet, sich mit ihr zu einem improvisierten Abendessen zu treffen – in schwindelerregender Schnürboden-Höhe am Vorabend ihrer Rückreise nach Paris. Er lädt sie für den nächsten Morgen zu einer Überraschung ins Studio ein. Milou will kommen – peut-être...
Die ganze Nacht hat Emil heimlich an einer fantasievollen Tanzkulisse für Milou gearbeitet, um ihr einen Traum zu erfüllen – samt Papp-Elefanten. Doch am nächsten Morgen stehen Soldaten auf der Glienicker Brücke, ihr ist der Weg nach Babelsberg versperrt. Was weder sie noch Emil ahnen können: Am 13. August 1961 lässt Walter Ulbricht in Absprache mit den wahren Machthabern, den in Berlin-Karlshorst stationierten sowjetischen Militärs, alle Verbindungen nach West-Berlin kappen. Nun scheint Milou für Emil unerreichbar. Im Chaos der auf die Teilung Berlins folgenden stürmischen Tage, in denen die Filmproduktion mangels Schauspieler und Technikpersonal völlig zum Erliegen kommt, gibt sich Emil, den Namen eines zufällig im Regal stehenden Kräuterlikörs adaptierend, als neuer Produktionsleiter Karl Boborkmann aus.
Zunächst nur gegenüber der gerade erst eingestellten Sekretärin Rosemarie Albrecht (Lilian Mazbouh), bald aber auch gegenüber seinem Team, das er sich aus gestandenen Babelsberger Mitarbeitern (Steffen Shorty Schult) und Komparsen (Jevgeni Sitochin) zusammenstellt, allen voran Helmut Posner (Manfred Möck), ein mit Rot-Grün-Blindheit geschlagener ewiger Assistent, der nach 40 Jahren die Chance, zum Kameramann aufzusteigen, beim Schopf ergreift. Emils mütterliche Freundin, die kurz vor ihrer Pensionierung stehende Maskenbildnerin Christa (Ilona Schulz), berät ihn bei seinem Projekt Kleopatra, das nur ein Ziel hat: im Gefolge der Titeldarstellerin Beatrice seine Milou wieder zurück nach Babelsberg zu holen.
Die Mund-zu-Mund-Propaganda über den auskunftsfreudigen Studio-Pförtner (Oliver Korittke) läuft wie geschmiert, sodass sich Emil bald nicht mehr vor arbeitswilligen Mitarbeitern retten kann. Die Kunde ist auch bis in den Westen gedrungen. Eine Titelstory der Bild-Zeitung bringt die Partei auf Trab: Gregor Grote (Anatole Taubman) von der Hauptverwaltung Film der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands lässt sich das junge, hoffnungsvolle Talent im Büro des Generaldirektors vorstellen. Genosse Beck fällt ebenso aus allen Wolken wie sein Mann fürs Grobe, Genosse Prager (Wilfried Hochholdinger). Weil Kleopatra zum Prestigeprojekt der Partei avanciert vor dem Hintergrund des auf den Mauerbau folgenden Kalten Krieges, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als das Projekt offiziell zu begrüßen und insgeheim zu hintertreiben. Mit dem Genossen Rolf Janssen (Thomas Heinze) steht bereits ein Ersatzmann für Emil bereit.
Doch der lässt sich nicht verunsichern, auch nicht als er schmerzlich zur Kenntnis nehmen muss, dass Milou nun mit dem aalglatten, äußerst eifersüchtigen Schauspieler Omar verlobt ist, als ein Jahr später die erste Klappe zum Historienschinken fällt. Einen Sabotageakt Pragers in den Kulissen verwandelt Emil produktiv in eine monumentale Szene: er kann sich auf sein eingeschworenes Team ebenso verlassen wie auf den schlechten Geschmack der SED-Ideologen. Doch noch hat Generaldirektor Beck ein Ass im Ärmel: eine nächtliche Ausweiskontrolle der Volkspolizei bringt Emil Hellwerk alias Karl Boborkmann hinter Gittern...
Kleindarsteller liebt Tanzdouble: Die im Grunde liebenswert-harmlose, mit melodramatischem Pathos aufgeladene und mit 125 Minuten entschieden zu lange Hommage an die große Zeit des aufwändigen Studio-Kinos vor Einführung der Digitaltechnik lässt Michael Gwisdek als mittlerweile in Frankreich lebender Opa Emil in einer kleinen, feinen Rahmenhandlung seinem Enkelkind eine kluge Maxime für sein weiteres Leben auf den Weg geben: „Wenn man sich wirklich mag, kann nichts und niemand einen trennen. Aber man muss dafür kämpfen.“
Was sich der populäre Defa-Schauspieler in der Wende-Zeit selbst zu Herzen genommen hatte: 1988 drehte er mit Treffen in Travers seinen ersten Film als Regisseur mit Corinna Harfouch in der Hauptrolle – um seine Ehe mit dieser Ausnahme-Schauspielerin zu retten. Michael Gwisdek: „Alle waren dagegen, aber dann habe ich mit dem damaligen Defa-Direktor einen Deal unter vier Augen gemacht. Jeder dachte, ich fliege damit voll auf die Fresse. Und dann bin ich mit dem Film in Cannes gelandet, und da wehte dann die DDR-Flagge.“ Seine Ehe hat die Verfilmung der gleichnamigen, 1793 in Paris und in der Schweiz spielenden Erzählung von Fritz Hoffmann freilich nicht retten können.
Der Drehbuchautor Arend Remmers (19 int. Preise für Schneeflöckchen, aktuell Netflix-Serie Dogs of Berlin) und der bislang noch weitgehend unbekannte Regisseur Martin Schreier (Unsere Zeit ist jetzt) haben viele solcher Geschichten rund um die – in weiten Teilen des Films fiktive - Potsdamer Filmfabrik aufgegriffen. In den Zeiten von Netflix und Amazon Prime muss auch das älteste Filmstudio der Welt kämpfen – ums Überleben. Auch wenn Hollywood längst die handwerkliche Qualität der Mitarbeiter, die heute für den französischen Konzern Vivendi Universal arbeiten, erkannt hat: Quentin Tarantino machte mit Inglourious Basterds den Anfang, seit 2003 erhielten Babelsberger Produktionen 48 Nominierungen bei den Academy Awards und 15 Oscars in verschiedenen Kategorien.
Babelsberg goes Hollywood: Das 125minütige Feelgood-Movie „Traumfabrik“, am 24. Juni 2019 im Berliner Zoo-Palast mit großem Pomp uraufgeführt, kommt am Donnerstag, 4. Juli 2019, in unsere Kinos – auch in die Filmwelt Herne.