
Zum 70. Geburtstag Pedro Almodovars
Leid und Herrlichkeit
Der in die Jahre gekommene, depressive Regisseur Salvador Mallo (Antonio Banderas, in Cannes im Mai 2019 als Bester Schauspieler ausgezeichnet) leidet unter zahlreichen Beschwerden, am meisten jedoch unter der Unmöglichkeit, weiter Filme zu drehen: Seine körperliche Verfassung erlaubt ihm keine größeren Anstrengungen mehr. Wenn er aber keine Filme mehr drehen kann, hat das Leben für ihn keinen Sinn mehr, da kann seine Assistentin Mercedes (Nora Navas) noch so intensiv auf ihn einreden.
Nun soll nach mehr als dreißig Jahren sein inzwischen zum Klassiker mutiertes Hauptwerk Sabor (Geschmack: das in Salvadors Wohnung hängende Filmplakat zeigt einen provozierend-glutroten Erdbeermund) in frisch restaurierter Digitalfassung wiederaufgeführt werden. Weshalb er sich mit dem Schauspieler Alberto Crespo (Asier Etxeandia) wieder versöhnen will, der darin die Hauptrolle spielte - unter Drogeneinfluss und keineswegs den Vorstellungen Salvadors entsprechend. Der muss heute selbst einen offenbar ziemlich süchtig machenden Cocktail an Medikamenten nehmen und lässt sich erstmals auf einen Flirt mit Heroin ein – in Albertos Wohnung. Sein darauffolgender Dämmerzustand lässt den Regisseur in eine Zeit seines Lebens zurückkehren, die er filmisch bislang nie verarbeitet hat.
Er erinnert sich an seine Kindheit (der junge Salvador: Newcomer Asier Flores) in den 1960er Jahren, als er mit seinen Eltern Venancio (Raul Arevalo) und Jacinta (Penélope Cruz) in das levantinische Dorf Paterna auswanderte, wo sie es besser haben sollten. Sein Vater arbeitet hart und trinkt viel, während sich seine Mutter als Fels in der Brandung erweist, die improvisiert, damit die Familie über die Runden kommt. Auch Salvadors erstes, noch kaum bewusstes Begehren als Neunjähriger taucht in seinen Erinnerungen wieder auf: Dem jungen Anstreicher und begabten Hobbymaler Eduardo (Newcomer Cesar Vicente), dem er Lesen, Schreiben und Rechnen beibringt und der im Gegenzug die elterliche Wohnhöhle kälkt und die Küchenwand nach überlieferter Art mit farbigen Kacheln schmückt, sitzt er unter gleißendem Himmel Modell – und fängt sich einen Sonnenstich ein…
In den 1980er Jahren, Spanien befindet sich nach Jahrzehnten der Franco-Diktatur im demokratischen Aufbruch, zieht es Salvador, der dank eines Stipendiums den Schulabschluss auf einem Priesterseminar schaffte, nach Madrid, wo er auf Federico Delgado (Leonardo Sbaraglia) trifft, eine Begegnung, die sein Leben von Grund auf verändert hat. Mit ihm unternimmt er zahllose Reisen, die ihn künstlerisch inspirieren, ihn aber auch vom Drogenmilieu der Hauptstadt entfernen. Bis heute trauert er seiner ersten großen Liebe nach – und diese flammt wieder auf, als der seit vielen Jahren als Familienvater glücklich in Argentinien lebende Federico in einer Erbschaftsangelegenheit wieder in Madrid weilt, abends ins Theater geht und im Die Abhängigkeit betitelten Monolog Alberto Crespos mit der eigenen Liebes-Geschichte konfrontiert wird. Federico erkennt sogleich in Salvador den Autor und steht eines Abends vor seiner Tür…

Nach dem Tod der geliebten Mutter (als 84-jährige Jacinta: Julieta Serrano) darf seine Assistentin Mercedes bei ihm einziehen: Salvador setzt sich an den Computer, das Aufschreiben seiner Erinnerungen weckt in ihm ein neues Lebensgefühl, das Briefchen mit dem pulverisierten Heroin landet in der Toilette. Zu den Bildern des Kinos seiner Kindheit, als die Filme noch an weiß getünchte Hauswände im Freien projiziert wurden, gesellt sich der beißende Unringestank durch an besagte Mauer pinkelnder Kinder. Salvador entwickelt das dringende Bedürfnis, seine Vergangenheit zu erzählen – erst fürs Theater und sicherlich bald auch fürs Kino…
Mit Dolor y Gloria, so der Originaltitel seines am 13. März 2019 in Madrid uraufgeführten 21. Spielfilms, gelingt dem 70-jährigen Regisseur Pedro Almodóvar ein faszinierendes Vexierspiel zwischen bisweilen gar märchenhafter Fiktion und, insbesondere was die enge Beziehung zu seiner Mutter betrifft, autobiographischen Bezügen. Über die drei Zeitebenen 1960, 1980 und heute fächert er das schillernde Leben von Salvador Mallo auf, einem berühmten, nun aber sehr zurückgezogen lebenden spanischen Filmregisseur. Antonio Banderas (Die Haut, in der ich wohne) verkörpert diesen einst vor Lebenslust und Kreativität sprühenden Mann, der sich erst ganz allmählich aus seiner selbst gewählten Isolation befreit, mit enormer Intensität. Für seine herausragende Leistung wurde Antonio Banderas bei den 72. Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit dem Preis für den Besten Schauspieler geehrt.
Mit Leid und Herrlichkeit hat Pedro Almodóvar, der Ende August 2019 bei den 76. Internationalen Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhielt, nach 32 Jahren auf eine faszinierend spielerische Weise eine Trilogie abgeschlossen: Auch in Das Gesetz der Begierde (La ley del deseo) von 1987 und La Mala Educación - Schlechte Erziehung von 2004 ist ein Filmregisseur der Protagonist einer Handlung, in der es um Begierde und filmisches Erzählen geht. Die Art und Weise, wie Fiktion und Realität verbunden sind, unterscheidet sich in den Filmen, bei denen für den Regisseur Kunst und Leben für die zwei Seiten derselben Medaille stehen: „Und das Leben beinhaltet immer Leid und Begierde.“
Die Musik stammt von dem ebenfalls im Mai 2019 in Cannes preisgekrönten Filmkomponisten Alberto Iglesias („Volver“, „Dame, König, As, Spion“), der seit über zwanzig Jahren erfolgreich mit Almodóvar zusammenarbeitet – wie mit dem Kameramann José Luis Alcaine („Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“), dessen farbensatte Bilder einmal mehr bezaubern. Und die für einen Spielfilm ungewöhnlichen Animationen in den ersten der insgesamt 113 Minuten steuert Juan Gatti bei. Der beim Münchner Filmfestival am 28. Juni 2019 erstmals in deutscher Synchronisation gezeigte Film, der anspielungsreich auf das eigene Werk rekurriert, ohne unmittelbar autobiographisch zu sein, ist am 23. September 2019 in der Montagskino-Reihe im Union Bochum zu sehen: um 17:15 Uhr sowie um 20 Uhr.
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- Donnerstag, 26. September 2019, um 16 Uhr