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Ein Herz und eine Seele: Bettina (Fania Sorel) und ihre Schwester Sanne (Veronika Thieme).

Alice Schwarzer bei der Essener Uraufführung

„Meine Schwester“ nach Bettina Flitner

Kann ein Buch einen Lebensschmerz überwinden? Durchaus, wie die wieder in Köln lebende Fotografin Bettina Flitner eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat mit ihrem literarischen Erstling: Als sie vor einigen Jahren vom Suizid ihrer geliebten älteren Schwester Sanne erfuhr, deren Gatte Thomas hatte sie im Bad neben der Waschmaschine gefunden, waren die ersten Reaktionen Schock, Lähmung und Verzweiflung. Doch dann entschied sie sich, ihre Erinnerungen aufzuschreiben: „Meine Schwester“, 2022 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, erzählt auf rund 300 Seiten von einer innigen Geschwisterbeziehung in den 1960er und 1970er Jahren.

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Überforderung der Kinder

Zuallererst von der Familie, von den charismatischen Großeltern etwa, darunter mit Professor Wilhelm August Flitner ein führender Reformpädagoge der Weimarer Republik. Von der Großmutter väterlicherseits, Elisabeth, die als eine der ersten Frauen promoviert hatte, von Tante Gudrun, der älteren Schwester ihrer Mutter. Und von ihrem links-liberalen Elternhaus, Vater Hugbert Flitner war ein weltgewandter Kulturmanager. Bettina erzählt von ihrer Kindheit, den Jahren auf der Montessori-Schule (in der Essener Bühnenadaption: Waldorf-Schule), von Ferien auf Capri und einem Jahr in New York.

Die Überforderung der Kinder durch das unstete, auf ihre Bedürfnisse nach Geborgenheit und Schutz wenig Rücksicht nehmende Leben der Eltern und nicht zuletzt die zunächst unverstandene Flucht der Mutter in die Depression schildert Bettina Flitner als Riss in ihrem Leben – und als Riss in der bisher so engen Beziehung der Schwestern, die beide nicht vermochten, die (Berufs-) Erwartungen ihrer Eltern zu erfüllen.

Regiedebüt mit Puppe

In der Adaption der Regisseurin Bettina Engelhardt und der Dramaturgin Margrit Sengebusch am Schauspiel Essen zeigt sich dieser Riss auch optisch: die aus zwei Tischen zusammengesetzte breite Tafel, welche die gesamte Bühnenbreite der kleinen Spielstätte Ada (türkisch für Insel) einnimmt (Bühne: Nina Linkowski), wird von den beiden Protagonistinnen auseinandergeschoben. Die durch Habitus und Aussehen (Kostüme: Bettina Engelhardt) tatsächlich als Schwestern durchgehen: Fania Sorel, 1971 in Belgien geboren, ist Schauspiel-Ensemblemitglied am koproduzierenden Theater Bremen, während die 1976 in der Schweiz geborene Schau- und Puppenspielerin Veronika Thieme seit ihrem Diplom an der Berliner Ernst Busch-Hochschule eng mit der Puppenbau-Legende Suse Wächter zusammenarbeitet, welche auch die sehr lebendige Sanne-Puppe geschaffen hat.

Zeit-Kolorit in kurzen Szenen

Die Schwestern beim Blockflöten-Spiel in der Schule, auf einer Autofahrt unter sich, im Winter auf dem Schlitten mit Papi, beim verzweifelten Grübeln über einer Matheaufgabe, aber auch mit Hendl-Slapstick zum Wienerwald-Reklamespruch und Banane mampfend als Ernie und Bert aus der Sesamstraße: zur Familiengeschichte gesellt sich eher der gesellschaftliche als der politische Kontext der Zeit. Wenige Requisiten kennzeichnen die Rollenwechsel, die leider mehrfach auch fiktionsbrechend angekündigt werden („Jetzt bin ich Mutter“). Der eindrucksvollste Moment des Abends ist kein szenischer: die Erzählung einer Begegnung mit einem orthodoxen Juden in Frankfurt/Main.Die beiden Bettinas

Die beiden Bettinas

Bettina Engelhardt, seit 2023 festes Ensemblemitglied am Schauspiel Essen, zur Frage, wie sie in ihrer ersten Regiearbeit auf die Puppe gekommen ist: „Es geht um den Suizid der Schwester. Ich habe etwas gesucht, was mir die Möglichkeit gibt, dass diese Figur ein Alter Ego hat, das im Vergleich zu der Figur auf der Bühne weiß, dass die Figur sterben wird. So, als wenn man die Möglichkeit hätte, noch mal auf das Leben zu schauen.“ Veronika Thieme ergänzt im Programmheft zur Rolle der Puppe in der Inszenierung: „Bei uns ist sie eine Zeitreisende, die sozusagen in die Zukunft schauen kann und weiß, wie die Geschichte endet. Die Puppe ist eigentlich ein Teil der Persönlichkeit von Sanne.“

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Bettina Flitner, 1961 in Köln geboren, ist Autorin und Fotografin. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Cutterin beim WDR und studierte von 1986 bis 1992 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Für ihr filmisches und fotografisches Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Sie arbeitet seit vielen Jahren für „Emma“, sodass es keine Überraschung war, dass Alice Schwarzer zur nach achtzig Minuten heftig umjubelten Uraufführungs-Premiere am 14. März 2025 nach Essen gekommen war.

Die nächsten Vorstellungen in der Spielstätte ADA des Essener Grillo-Theaters:

  • Samstag, 15. März 2025, 20 Uhr
  • Samstag, 29. März 2025, 20 Uhr
  • Ostermontag, 21. April 2025, 19 Uhr
  • Freitag, 25. April 2025, 20 Uhr
Bettina (Fania Sorel) und Sanne (Veronika Thieme) beim Flötenspiel in der Schule.
April
21
Montag
Montag, 21. April 2025, um 19 Uhr Karten unter www.theater-essen.de oder Tel. 0201 – 81 22 200.
Weitere Termine (1) anzeigen...
  • Freitag, 25. April 2025, um 19 Uhr
Vergangene Termine (2) anzeigen...
  • Samstag, 15. März 2025, um 20 Uhr
  • Samstag, 29. März 2025, um 20 Uhr
Samstag, 15. März 2025 | Autor: Pitt Herrmann