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Die tanzenden Mullah-Derwische des Urgroßvaters: Alon Bracha, Zuki Izak Ringart, Roman Singh, Ludger Lamers und Nina Wesemann.

Sehr persönliche Bürokratie-Satire

Narges Kalhors Debüt „Shahid“

Update, Donnerstag (8.8.2024)

Läuft weiterhin im Sweetsixteen Dortmund, im Filmstudio Glückauf Essen und im Metropol Düsseldorf.

Der Film-Text

Eine Warnung vorweg: „Sharid“, das 84-minütige Leinwanddebüt der 1984 in Teheran geborenen Regisseurin Narges Kalhor, die als Tochter eines hochrangigen iranischen Regierungsberaters Aufsehen erregte, als sie ins Exil nach Deutschland ging, entzieht sich gängigen Kategorien und gewohnter Rezeption. Die Absolventin der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film hat einen sehr persönlichen Film gedreht: lässt man sich auf ihre „neuen Narrative“ ein, die das Ziel verfolgen, „über den feministischen Widerstand gegen patriarchale Strukturen und gegen die Homogenität der Gesellschaft“ zu diskutieren, so die Regisseurin im Schmidbauer-Presseheft, nimmt man erstaunt zur Kenntnis, wie (selbst-) kritisch und (selbst-) ironisch die Vierzigjährige zu Werke gegangen ist.

Kafkaeske Realsatire

Die der äußeren Schale einer Zwiebel gleichende Rahmenhandlung ist eine kafkaeske Realsatire auf die deutsche Bürokratie: Die Münchner Filmemacherin Narges „Shahid“ Kalhor, die seit zehn Jahren in Deutschland lebt und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, möchte den vom Urgroßvater ererbten Ehrentitel „Shahid“, auf Deutsch „Märtyrer“, aus ihrem Nachnamen entfernen lassen. Über die grotesken Anforderungen des bayerischen Staates dreht sie nun einen Film, ihren Part übernimmt die Schauspielerin Baharak Abdolifard, die – als Barkeeperin in Ausbildung - bei der Beamtin des Münchner Kreisverwaltungsreferates (Carine Huber) einen ganzen Stoß notwendiger Papiere abliefert.

Zwei letzte Hürden gilt es noch zu überspringen. Zum einen bleibt sie lebenslang Bürgerin ihres Geburtslandes und kann daher nicht auf Hilfe des iranischen Konsulates hoffen: in Deutschland müssen Namensänderungen in allen amtlichen Papieren vorgenommen werden. Zum anderen muss sie noch ein „Psychologisches Gutachten der seelischen Belastung“ beibringen, weshalb sie beim Psychotherapeuten Stefan Ribbentrop (Thomas Sprekelsen) gleich eine ganze Reihe von „Sitzungen“ buchen muss. Der ihr prompt eine „Posttraumatische Belastungsstörung“ attestiert, was sich, so sein erster Überschlag, auf 2.000 Euro subsummieren könnte.

Erzählerfigur im Moritaten-Stil

Saleh Rozati als Pardeh Khani, ein Erzähler im Stil alter Moritatensänger.

Die darunter liegenden Zwiebelschalen offenbaren dokumentarische Bilder aus dem heutigen Iran und eigene Aufnahmen aus ihrer Zeit im bayerischen Auffanglager Zirndorf. Anrührend die inszenierte zufällige Begegnung mit einem früheren Lager-Mitbewohner (Shernin Khalili), der jetzt einen Münchner Kiosk besitzt. In die Tiefe der Vergangenheit Persiens und damit des Urgroßvaters Gholam Hossen Tehrani, dem 1907 zum Märtyrer gewordenen Revolutionär, führt Saleh Rozati als Erzähler Pardeh Khani im Stil eines fahrenden Moritatensängers. Verbunden mit der für die Regisseurin schmerzlichen Erkenntnis, dass eigentlich dessen Gattin, eine Kurdin aus dem Kalhor-Stamm, im Mittelpunkt ihres Films stehen müsste, trägt sie doch schließlich ihren Namen. Apropos Namen: Reichlich an den Haaren herbeigezogen Pardeh Khanis eingeschobene Moritat vom Werdegang Joachim von Ribbentrops als Außenminister des Dritten Reichs und Vertrauter Adolf Hitlers ohne familiären Bezug zum Psychotherapeuten.

Reichlich dick aufgetragen auch Narges Kalhors Positionierung als Teil der Weltgeschichte, wenn auch zurückgenommen durch die Greenscreen-Offenbarung in einer von zahlreichen bewusst fiktionsbrechenden Making-off-Szenen. Die vom gedoubelten Filmteam (Noah Schuller als Kameramann Felix, Antonia Meier als Kostümdesignerin Julia) über Regieanweisungen bei laufender Kamera bis hin zum offenen inhaltlichen Disput zwischen der Regisseurin und der sie verkörpernden Schauspielerin reichen: Narges Kalhor ist sich ihrer ästhetischen Mittel allzu bewusst.

Verrätselte Bilder

Narges „Shahid“ Kalhor (Baharak Abdolifard) lebt seit vielen Jahren in Deutschland und will ihren Märtyrer-Namenszusatz loswerden.

Zum hochartifiziellen inneren Kern der Zwiebel aber führen Traumsequenzen, Überblendungen und verrätselte Choreographien: die Regisseurin, verfolgt von ihrem Urgroßvater (Nima Nazarinia) und dessen tanzenden Mullah-Derwischen (Alon Bracha, Zuki Izak Ringart, Roman Singh, Ludger Lamers und Nina Wesemann), umgeben von einem Briefträger (Thomas Hupfer), der mit Schah-Marken frankierte Post austrägt, und einem philosophierenden Straßenreiniger (Armin Makumbo), der wie alle Beteiligten auch schon ‘mal ein Lied anstimmt, ohne dass „Shadid“ gleich zum Musical wird. Nur ein einziges Mal, und dann übernimmt Narges Kalhor selbst ihre Rolle, werden die finsteren Derwische durch fröhliche Tänzerinnen (Raphaela Beier, Julia Weiermann, Martina Sedlmeier und Dana Riaki) ersetzt – als sich die Regisseurin an ihre Urgroßmutter erinnert. Am Ende trifft Narges „Shahid“ Kalhor die radikale Entscheidung, den Großvater zu töten, bricht aber plötzlich die Dreharbeiten ab...

Die Komödie „Shahid“ ist eine gesellschaftskritische Satire über die Pflicht zum Widerstand, nicht nur im Iran, sondern genauso auch in der neuen Heimat. Der Film arbeitet mit dokumentarischen, fiktiven und performativen Elementen und die Bildsprache zeigt die fließenden Grenzen zwischen Heldentum und Scheitern. Die Uraufführung fand am 16. Februar 2024 auf der 74. Berlinale in der Sektion Forum statt. Hier wurde der Film mit dem Caligari-Filmpreis und dem Cicae Art Cinema Award ausgezeichnet.

Kinotour mit Narges Kalhor

Zum Kinostart am 1. August 2024 ist er im Roxy Dortmund, im Essener Filmstudio Glückauf sowie im Düsseldorfer Metropol zu sehen. Die bundesweite Kinotour mit der Filmemacherin Narges Kalhor macht am Sonntag, 4. August 2024, zweimal Station in unserer Region: Um 13 Uhr im Roxy Dortmund und um 17 Uhr im Metropol Düsseldorf.

Mittwoch, 31. Juli 2024 | Autor: Pitt Herrmann