
Neu im Kino: König der Raben
Ein junger Mann päppelt Taubenküken mit der Pipette auf. Es ist der 22-jährige Mazedonier Darko (Malik Blumenthal), der sich in seinem Taubenschlag am wohlsten fühlt. Was auch an seiner prekären Wohn- und Lebenssituation insgesamt liegt: Zusammen mit seiner kranken und oft geistig verwirrten Mutter Ramonan (die polnische Schauspielerin Danuta Stenka) lebt er zusammen mit anderen Illegalen aus Europa und Afrika in einem abbruchreifen Haus (gedreht wurde in der ehemaligen US-Kaserne Ray Barracks im hessischen Friedberg) – stets in Angst, von der Polizei entdeckt und an die Ausländerbehörde ausgeliefert zu werden.
Der Taubenzüchter Darko träumt davon, König der Raben zu sein, die im Londoner Tower gehalten werden, damit den Royals kein Unglück geschieht. Seine besten Freunde sind Yanoosh (Karim Günes) und Manolo (Mert Dincer), die Söhne der Nachbarin Chanel (Barbara Philipp), die immerhin über eine Krankenkassen-Karte verfügt, mit der Darko bei einer hilfsbereiten Ärztin (Anja Schiffel) Medikamente bekommen kann. Welche bei aller Empathie freilich keinen Hehl daraus macht, dass die offenbar traumatisierte Ramonan in stationäre Behandlung gehört. Die drei Jungs sammeln Autoteile und anderen Schrott, um sich über Wasser zu halten, bisweilen ist auch ein Taschendiebstahl drin. Etwas Geld – und ordentliches Essen - gibt’s auch, wenn Darko bei Familienfesten aller Art seine weißen Tauben aufsteigen lässt.

So auch bei einer opulent gefeierten Hochzeit eines Brautpaares (Laura Orf und Amesh Bharti), die unter dem Patronat des „Paten“ Schwarzenegro (Ralph Herforth) steht, der das große Wort führt, Schmiergeld kassiert und Arbeit verteilt. Etwa für Darko und Yanoosh, die im Küchenzelt helfen, bis Blaulicht aus größerer Entfernung die Feier abrupt beendet. Im angrenzenden Wald hat Darko eine Frau mit Rucksack beobachtet, die sich merkwürdig verhält. Als Schwarzenegro in der Hektik des Aufbruchs keinen Lohn zahlen will, begehrt Darko auf – und landet unsanft im Teich. Was lebensgefährlich ist für den Nichtschwimmer, der unvermutet von besagter Rucksack-Frau in ein Ruderboot gezerrt und ans rettende Ufer gebracht wird.
So lernt er die geheimnisvolle Fotografin und Künstlerin Alina (Antje Traue) kennen und lieben, welche vergleichsweise komfortabel in einer Stadtwohnung mit Studio unterm Dach lebt, wo sich die beiden immer häufiger treffen. Sie behauptet zwar, geschieden zu sein, ist aber immer wieder mit ihrem „Ex“ Martin (André Röhner) zusammen, von dem sie offenbar finanziell abhängig ist. Und der aus Eifersucht handgreiflich wird, als er seinen erheblich jüngeren Rivalen inflagranti mit Alina erwischt. Eifersüchtig ist freilich auch Yanoosh, der heimlich Handyfotos vom schlafenden Darko macht.
Als eines Morgens Afrikaner von der Polizei abgeholt werden, um sie abzuschieben, bereitet sich Darko auf die Flucht mit seiner Mutter durch einen im Bad vorsorglich geschaffenen Hinterausgang vor. Zum Äußersten kommt es zwar nicht, Darko sieht aber ein, dass er mit der Betreuung seiner Mutter, die selbst bei strömendem Regen schon ‘mal im Nachthemd in der Stadt herumirrt, überfordert ist. Er kann sich ein Leben an der Seite Alinas vorstellen. Doch sie genießt nur den Sex mit ihrem jungen Lover, bei dem sie auch zur Fotokamera greift, an einer festen Bindung ist sie nicht interessiert. Als er den kleinen Manolo, der offenbar auf eigene Faust Geschäfte mit seinen Tauben machen wollte, verletzt im verwüsteten Taubenschlag vorfindet, zieht Darko die Reißleine. Er bringt Ramonan in eine Betreuungseinrichtung und will mit Alina abhauen. Die ihm gebeichtet hat, dass sie nicht nur ihm das Leben gerettet hat, sondern auch umgekehrt: ihr auf den Rücken geschnallter Rucksack war voller Steine, mit dem sie sich seinerzeit im See ertränken wollte. Aber Martin hat die Polizei gerufen…
In seinem zweiten Kinospielfilm „König der Raben“, der am 24. Oktober 2020 bei den 54. Hofer Filmtagen uraufgeführt worden und am 19. August 2021 in den Kinos gestartet ist, erzählt der gebürtige Warschauer Maler und Experimentalfilmer Piotr J. Lewandowski binnen gut einhundert Minuten von der Freundschaft zwischen drei gesellschaftlichen Außenseitern. Sie leben am Rand einer Gesellschaft, die sie ausbeutet und im Zweifelsfall abschiebt. Die Balance innerhalb des Trios gerät durch die Amour fou zwischen Darko und Alina aus dem Gleichgewicht und gefährdet die gesamte „Familie“ der Illegalen.
Wie schon in seinem Debütfilm „Jonathan“, der 2016 auf der Berlinale uraufgeführt wurde und über dreißig internationale und nationale Preise erhielt, erzählt Lewandowski, der seit 1999 in seiner Wahlheimat Deutschland lebt, eine auf einer wahren Begebenheit fußende Geschichte voller Empathie für die Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit der Protagonisten. Seine sinnlich-poetische Bildsprache chargiert zwischen Realismus und traumartiger Utopie, wie heute immer mehr üblich werden fremdsprachige Passagen deutsch untertitelt. Was diesem bemerkenswerten Spielfilm auch akustisch Authentizität verleiht. „König der Raben“ läuft u.a. im Capitol Bochum, in der Schauburg Gelsenkirchen sowie im Souterrain Düsseldorf.