
Wie Hélène den Tod akzeptiert
Neu im Kino: 'Mehr denn je'
Die junge Frau, man spürt es sogleich instinktiv, fühlt sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie will partout die Wohnung nicht verlassen: Hélène (Vicky Krieps) hat vor einem Monat ihren Bürojob aufgeben müssen. Sie leidet an der „Idiopathischen Lungenfibrose“, einer sehr seltenen Krankheit, bei der sich die Lunge verhärtet und bis zur Atemnot vernarbt. Eine Organtransplantation beider Lungenflügel könnte ihr helfen, aber nur eine gewisse Zeit: die Krankheit ist unheilbar. Auch, weil man bisher nicht weiß, woher sie kommt und wie man sie behandeln kann.
Ihr Gatte Mathieu (Gaspard Ulliel), an dessen Seite sie seit Jahren ein glückliches Leben im südfranzösischen Bordeaux führt, ist bis hin zur Wimperntusche rührend um sie bemüht, sind sie doch den Abend im großen Freundeskreis zum Essen verabredet. „Ich bin krank! Vielleicht sterbe ich!“: Hélène fühlt sich von allen beobachtet und, schlimmer noch, bedauert – und ergreift die Flucht. Auch weil sie den Freunden nicht den Anblick ihres Sauerstoffkonzentrators samt Nasenschlauch zumuten will.
Am liebsten allein und im Internet
Überhaupt ist sie am liebsten allein, lehnt auch das Hilfsangebot ihrer Mutter Marie (Valérie Bodson) ab. Lieber tauscht sie sich im Internet mit Leidensgenossen aus. Ein Selbstporträt Egon Schieles auf der Seite eines norwegischen Bloggers macht die 33-Jährige neugierig auf den norwegischen Blogger „Mister“ (Bjørn Floberg), der in einem Netz-Tagebuch Fotos und Gedanken veröffentlich, die sie tief berühren.
„Die Lebenden können die Sterbenden nicht verstehen“ weiß „Mister“, der mit entwaffnender Offenheit bekennt: „Ich hasse gesunde Menschen.“ So ist es vor allem die Schönheit, mehr noch die Einsamkeit der nordischen Fjordlandschaft, die Hélène so sehr fasziniert, dass sie den Entschluss fasst, nach Norwegen zu reisen – alleine im Zug quer durch Europa. Naturgemäß gegen den Willen des besorgten Mathieu erreicht sie völlig erschöpft das Ziel – ein einsam direkt am Wasser gelegenes Haus mit für Gäste hergerichtetem ehemaligen Bootshaus. Und kommt in der taghellen Mittsommernacht doch nicht zur Ruhe.

Bent, wie der Blogger mit richtigem Namen heißt, entpuppt sich zu ihrer Überraschung als schon recht betagter, an Krebs erkrankter und nach einem schlimmen Bohrturm-Unfall traumatisierter Mann, der sich von seiner in Oslo zusammen mit dem gemeinsamen Sohn lebenden Frau bewusst getrennt hat, um seine letzten Tage selbstbestimmt in dieser Abgeschiedenheit zu verbringen. In der es keinen Handyempfang gibt: Für Telefonate nach Frankreich muss Hélène mühsam auf einen Berg steigen – wo sie auf zahlreiche verstreut lebende Bewohner mit gleichem Ansinnen trifft.
Intime Stunden
Mathieu beschwert sich bei seiner Frau, dass er sie tagelang nicht erreicht hat. Hélènes aufgeregte Reaktion, die von Schuldgefühlen zeugt, kontert Bent mit der Frage: „Wer ist egoistisch? Doch auch die, die Dich am Leben erhalten wollen.“ Der eifersüchtige Mathieu macht sich sogleich auf den Weg in den hohen Norden – und verlebt beiderseits so erfüllende intime Stunden mit seiner Frau wie schon lange nicht mehr. Selbstverständlich, so seine Überzeugung, würde sie jetzt mit ihm nach Bordeaux zurückfahren, um vor Ort zu sein, wenn ein Spenderorgan in der Klinik eintrifft.
Doch Hélène, die zum ersten Mal in ihrem Leben einfach ihrem Instinkt gefolgt ist, bleibt am Fjord zurück: „Wenn Du nicht da bist, ist es einfacher.“ Zu Bent, der generös das Feld für das junge Paar geräumt hat, wird sie jedoch nicht zurückkehren…
Biographischer Hintergrund
„Plus que jamais“, so der Originaltitel des am 21. Mai 2022 beim Filmfestival Cannes in der Reihe „Un certain regard“ uraufgeführten Zweistünders, der seine Deutsche Erstaufführung am 25. Juni 2022 beim Filmfest München erlebte und am Donnerstag, 1. Dezember 2022, in unsere Kinos kommt, hat einen biographischen Hintergrund: die Mutter der Regisseurin Emily Atef („3 Tage in Quiberon“) litt 22 Jahre lang an Multiple Sklerose, bevor sie auch noch an Krebs erkrankte und im Alter von 78 Jahren starb. „Während ihrer Krankheit“, so die gebürtige Berlinerin des Jahrgangs 1973, „hat mir die Arbeit an dem Film geholfen, die richtige Einstellung zu finden. Sie hat mir die Kraft gegeben, ihr – auch wenn mich das persönlich sehr geschmerzt hat – zu sagen: ‚Du musst keine Chemo machen, wenn du nicht willst. Du tust, was du willst‘.“
Beim 31. Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern 2022 in Schwerin gabs gleich drei Preise: Vicky Kriebs wurde geehrt für die beste darstellerische Leistung Spielfilm, Emily Atef mit dem Fipresci-Preis der deutschsprachigen Filmkritik (bester Spielfilm) sowie dem NDR-Regiepreis. Ironie des Schicksals: „Mehr denn je“ ist die letzte Rolle des französischen Film- und Theaterschauspielers Gaspard Ulliel, der 37-jährig kurz nach Drehschluss im Januar 2022 an den Folgen eines Unfalls starb. Bei uns zu sehen im Casablanca Bochum, Luna im Astra Essen, Bambi Düsseldorf und ab Donnerstag, 8. Dezember 2022, im Sweetsixteen Dortmund.