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Da war die sozialistische Welt noch in Ordnung: Franz (Lars Eidinger) und Corina (Luise Heyer) heiraten - im Kinofilm „Nahschuss“.

Neu im Kino - Nahschuss

Der junge Wissenschaftler Franz Walter (Lars Eidinger) hat gerade an der Ost-Berliner Humboldt-Universität promoviert. Nach seiner grandiosen Dissertation gilt er auch in den Augen seiner Professorin Link (Victoria von Trauttmansdorff) als ihr natürlicher Nachfolger. Zunächst soll er für ein Jahr nach Äthiopien gehen, weshalb er sich nicht nur von seinen Fußballkameraden verabschiedet, sondern seiner Freundin Corina (Luise Heyer) einem Heiratsantrag macht. In Ermangelung von Verlobungsringen malen sich beide diese mit dem Kugelschreiber an die Hand mit dem Versprechen, diese stets zu erneuern.

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Franz sitzt bereits in der startbereiten Interflug-Maschine, als er vom Flughafen Schönefeld in die Hauptstadt zurückbeordert wird: Dirk Hartmann (Devid Striesow) von der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit wirbt ihn mit blumigen Versprechungen – und einer modern ausgestatteten Wohnung samt Balkon – ab. Er soll für den Auslandsnachrichtendienst der DDR arbeiten, was er natürlich seinem näheren Umfeld verheimlichen muss, schon gar seinem regimekritischen Vater Hans Walter (Christian Redl).

Unverhofft im Stasi-Knast: Lars Eidinger brilliert als Franz Walter im Kinofilm „Nahschuss“.

Sein erster Auftrag führt ihn zusammen mit seinem Führungsoffizier Hartmann nach Hamburg, wo der Kundschafter „Panther“ (Peter Lohmeyer) bereits tätig ist: Franz soll den einstigen Oberliga-Star Horst Langfeld (Leon Hoge), der sich dem HSV angeschlossen hat, dazu bewegen, in die DDR zurückzukehren. Um dessen Kumpel Bodo Renner (Moritz Jahn) als Unterstützer zu gewinnen, wird die junge, attraktive Kundschafter-Kollegin Klara (Paula Kahlenberg) auf ihn angesetzt.

Zurück in Berlin wird geheiratet – allerdings nur in der von Wagner (Kai Wiesinger) straff geführten HVA-Familie. Sodass selbst Walters Kicker-Kumpel Bernd (Hendrik Heutmann) nicht eingeladen worden ist: der Stasi-Job macht einsam. Für kurze Zeit schweben Franz und Corina im siebten Himmel, Geld ist kein Thema und Extrawünsche wie etwa Wassersport auf dem Müggelsee werden sofort erfüllt. Aber bald stellt sich der charmante, weltgewandte Dirk Hartmann als menschliches Wrack heraus: Alkoholmissbrauch, Prostitution. Immer mehr hinterfragt Franz die Sinnhaftigkeit seines Tuns.

Zum Bruch kommt es, als er herausbekommt, mit welch perfiden Methoden die Stasi arbeitet: Langfelds in der DDR verbliebenen Frau Luisa (Ada Philine Stappenbeck) wird eine Krebserkrankung nicht nur angedichtet, sie wird tatsächlich einer entsprechenden Therapie unterzogen. Klara ist nach der Nacht mit Renner schwanger geworden und will das Kind austragen. Franz wird mit der notwendigen Augen-Operation seiner Mutter Margit (Hedi Kriegeskotte) unter Druck gesetzt, Klara zur Abtreibung in einer Rostocker Praxis zu bewegen. Er flüchtet sich in den Alkohol, befürchtet ein Verhältnis zwischen Corina und Dirk Hartmann. Als ihn die Kunde vom Selbstmord des Fußballers Langfeld erreicht, zu dem ihn von der Stasi gefälschte Briefe seiner Frau getrieben haben, will Franz hinschmeißen und in die Wissenschaft zurückkehren. Auf die Hilfe seiner Professorin kann er nicht hoffen…

Mit „Nahschuss“ ist der Filmemacherin und Fotokünstlerin Franziska Stünkel („Vineta“) ein eindringlicher Film über die Todesstrafe in der DDR gelungen. Die Hauptfigur Franz Walter, der Kameramann Nikolai von Graevenitz binnen knapp zwei Stunden nicht von der Seite weicht, ist an das Leben des Dr. Werner Teske, der 1981 als letzter Mensch in der DDR zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, angelehnt. Was kaum jemand weiß: Bis 1968 wurde in diesem Unrechtsstaat das Todesurteil mit dem Fallbeil vollstreckt. Weil sich die Guillotine mechanisch als fehleranfällig erwies, ging man zum unerwarteten Nahschuss in den Hinterkopf über. Am 26. Juni 1981 war Werner Teske der letzte, an dem auf diese Weise in der Leipziger Justizvollzugsanstalt im Gebäude des ehemaligen Königlichen Landgerichts die Todesstrafe vollstreckt wurde – in der ehemaligen Hausmeisterwohnung des Gefängnisses. Insgesamt wurden in der DDR 166 Personen hingerichtet bis zur offiziellen Abschaffung der Todesstrafe durch den Staatsrat am 17. Juli 1987.

Lars Eidinger verkörpert die Geschichte eines Mannes, der, Täter und Opfer zugleich, in die Mühlen eines Unrechtssystems gerät und daran zerbricht. Zu großen Teilen an Berliner Originalschauplätzen gedreht wie der Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen (Barkas-Szene am Anfang), der Stasi-Zentrale Erich Mielkes an der Normannenstraße und dem Gelände der HV Aufklärung von Markus Wolf am Alexanderplatz, ist ein ungemein intensiver, emotional mitreißender Spielfilm entstanden über ein bisher völlig vernachlässigtes Thema.

Franziska Stünkel im Alamode-Presseheft: „Wie verhält man sich als Mensch in einem politischen System? Wie können politische Systeme Menschen manipulieren? Zwar geht es in ‚Nahschuss‘ um das politische System der DDR, aber ich habe diese Fragen ganz generell verfolgt. ‚Nahschuss‘ ist auch eine Fallstudie und die Vermutung, dass ein Weg wie der von Franz Walter so oder ähnlich auch in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft möglich ist. Wichtig ist mir eine Übertragbarkeit auf politische Unrechtssysteme im Allgemeinen. Darunter auch das Thema Todesstrafe. Noch heute wenden 56 Staaten die Todesstrafe an. Selbstverständlich trete ich entschieden für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Ein ganz elementarer Aspekt in meinem Film ist auch das Thema Vertrauen. Wie weit vertraut man als Mensch einem politischen System, wann beginnt das Misstrauen, ab wann missbraucht ein politisches System Vertrauen?“

„Nahschuss“ ist am 4. Juli 2021 auf dem 38. Internationalen Filmfest München uraufgeführt und mit dem One-Future-Preis sowie dem Drehbuch-Förderpreis Neues Deutsches Kino ausgezeichnet worden, Kinostart am 12. August 2021. In unserer Region zu sehen u.a. im Casablanca Bochum und im Essener Eulenspiegel.

Donnerstag, 12. August 2021 | Autor: Pitt Herrmann