
Neu im Kino: So viel Zeit
Philipp Kadelbachs Verfilmung des Ruhrgebiets-Romans So viel Zeit von Frank Goosen ist zum bundesweiten Start am 22. November 2018 auch in der Filmwelt am Berliner Platz in Herne zu sehen. „Für uns muss es laut sein / So lange es geht…“: Im Bochum der 1980er, als auf Zeche Prinz Regent jedes Wochenende live die Post abging, träumten die Teenager Rainer (Nick Romeo Reimann), Konni (Jonathan Berlin), Ole (Benjamin Lutzke), Bulle (Vincent Krüger) und Thomas (Lennart Betzgen) von der großen Karriere mit ihrer Rockband Bochums Steine - Sex, Drugs und Rock „n“ Roll. Dann ist es soweit: das erste große Konzert. Die Band gibt alles, aber der eifersüchtige Gitarrist Rainer schubst den Frontsänger und Gitarristen Ole nach dessen vermeintlich viel zu langem Solo von der Bühne – und rein in die Pyrotechnik. Oles Kleidung fängt Feuer und die Karriere von Bochums Steine ist beendet, noch bevor sie begonnen hat.

Dreißig Jahre nach Auflösung der Band herrscht immer noch Funkstille zwischen Rainer und Ole. Die meisten haben bürgerliche Berufe und Familie, vom Unterhaltungsmusiker über Religionslehrer bis hin zum Zahnarzt. Nur Rainer (nun Jan Josef Liefers) ist geschieden und pleite, muss sein Auto verkaufen, weil er immer weniger unbegabten Kindern Musikunterricht erteilt. Und leidet überdies unter Seh- und Sprachstörungen. Einziger Lichtpunkt seines Lebens ist Sohn Dani (Serafin Gilles Mishiev), der bei seiner „Ex“ Brigitte (Jeanette Hain) lebt. Als er 'mal wieder einen Nachmittag mit ihm verbringen will, kommt ein längst vergessener Arzttermin dazwischen.
Die niederschmetternde Diagnose: Seine epileptischen Anfälle resultieren aus einem Gehirntumor. Selbst wenn er sich einer risikoreichen Operation unterzöge, würde das seine Lebenschancen um maximal ein Jahr verlängern. Rainer sagt weder Dani noch Brigitte ein Wort und zerschmettert abends daheim seine Gitarre. Da hört er im Radio im Vorfeld eines großen 80er-Jahre-Revival-Konzertes in der Bochumer Zeche, wie sein früherer Manager Oehlke (André M. Hennicke) gefragt wird, ob neben den Scorpions auch die Lokalmatadoren Bochums Steine dabei wären. „Das ist gegessen“ ist dessen knappe Antwort.
Aber nicht für Rainer. Er hat keine Erinnerungsstücke an die Band weggeschmissen und kramt nun in seinem alten Wohnwagen in der Vergangenheit. Kurzentschlossen taucht er bei Oehlke auf, um ihm zu verkünden, dass Bochums Steine für einen Auftritt bereit stehen. Der ist skeptisch: „Ist Ole dabei?“ Rainer besucht die alte Truppe in einer Kneipe, wo sie sich regelmäßig zum Skat trifft.
Von den erst verblüfften, bald aber gar nicht so abgeneigte Jungs macht heute zwar keiner mehr Musik. Aber Konni (Matthias Bundschuh), der Bassist, ist weder in seiner Ehe mit der offen promiskuitiven Michaela (Dorkas Kiefer) noch in seinem Job als Religionslehrer glücklich, Thomas (Richy Müller), der Keyboarder, wohnt meistens bei Corinne (Alwara Höfels) auf einem Hausboot. Er hangelt sich als Entertainer bei Kaffeefahrten mit der Santa Monika auf dem Rhein-Herne-Kanal von Affäre zur Affäre. Aus Bulle (Armin Rohde) schließlich, dem Drummer, ist ein nicht nur beruflich stark geforderter Zahnarzt geworden: Er kümmert sich nach dem Tod seiner Frau allein um seine beiden Töchter.
„Rock’n’Roll: Es ist extrem – zu oft, zu viel, zu laut – das pure Leben“: Die Jungs legen fast wie in alten Zeiten los und Rainer kann sogar seinen Sprössling dazu bewegen, zu den Proben zu kommen. Als Steffi (Laura Tonke) sich überreden lässt, die Band in ihrer Musikkneipe Sonic Ballroom spielen zu lassen, muss mangels Sänger wohl oder übel Konni ran – und kriegt auf der Bühne keinen Ton heraus. Ole muss her! Er soll nach Berlin gegangen sein. Rainer macht sich in Danis Begleitung auf den Weg in die Hauptstadt und punktet bei seinem Sohn, als er sich in einer Autobahn-Tankstelle mit einer Motorradgang anlegt. Auch wenn er sich dabei eine blutige Nase holt, hat er das Loser-Image in den Augen seines allzu häufig von ihm versetzten Jungen verloren.
Ole (Jürgen Vogel) geht es offenbar prächtig. Er gibt in seiner Nobel-Villa gerade eine private Soirée mit klassischer Musik, als Rainer und Dani hereinplatzen. „Tut mir einen Gefallen und verpisst euch!“ lautet die spontane Reaktion des vollbärtigen Mannes mit Hipster-Hut. Doch sein Arbeitszimmer steckt voller Erinnerungsstücke, darunter auch ein altes Gruppenfoto und das Plakat des WDR-Rockpalastes, bei dem Bochums Steine zusammen mit Nena, Bap und Stunde X gespielt haben. Es ist ganz offensichtlich: Ole kann gar nicht anders, als es noch einmal zu probieren.
Beim ersten Probekonzert vor jungem Publikum in alter Besetzung im Sonic Ballroom steigt bald die Stimmung - bis Rainer auf offener Bühne zusammenbricht. Er hat sich nur Steffi anvertraut, und die erläutert den entsetzten Bandmitgliedern, was dieser epileptische Anfall zu bedeuten hat. Alle sind von Rainers Vertrauensbruch ihnen gegenüber entsetzt und laufen auseinander, Dani eingschlossen. Doch am anderen Morgen wecken sie Rainer, der nicht die erste Nacht auf einer Halde hoch über dem Revier verbracht hat. Als er dem Quartett verrät, dass er einen OP-Termin in der Klinik hat und beim Konzert in der Zeche nicht dabei sein kann, beschließen sie, für ihn am Abend mitzuspielen...
So viel Zeit, uraufgeführt am 9. Oktober 2018 beim Filmfest Köln, kommt am 22. November 2018 in die Kinos und ist auch in der Filmwelt Herne zu sehen. Die ARD-Sky-Koproduktion basiert auf dem gleichnamigen Roman des Bochumer Schriftstellers Frank Goosen (Liegen lernen), der 2007 erschien. Dem mehrfach preisgekrönten Regisseur Philipp Kadelbach (Parfum, Nackt unter Wölfen, Unsere Mütter, unsere Väter) ist nicht gerade großes Kino gelungen, weil er sich nicht gänzlich von der Bildschirm-Ästhetik hat lösen können. Aber die hundertminütige Literaturadaption kommt Goosens Stil der witzigen Beiläufigkeit und der Empathie gerade für Verlierertypen erstaunlich nahe und Kameramann Thomy Dirnhofer sorgt für authentische, beinahe klischeefreie Ruhrgebiets-Impressionen.
So viel Zeit feiert das Leben in all' seinen Facetten, die Musik und die Tatsache, dass es nie zu spät ist, selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen seinem Dasein eine entscheidende Wendung zu geben. Mit einem großartigen Star-Ensemble, zu dem auch die legendäre Band Scorpions mit einem Gastauftritt gehört, ist ein durchaus auch melancholischer Film entstanden, der am Ende noch einmal richtig Fahrt aufnimmt. Apropos Musik. Während Bochums Steine im Roman bekannte Titel der 1970er Jahre covern, hat Altmeister Helmut Zerlett dem Film mit eigenen Kompositionen ein eigenes Gepräge gegeben. Seine Lieder Drei Affen, Scheiß auf Morgen und Zu laut, von den Protagonisten selbst eingespielt, wobei einer wie Jan Josef Liefers über reichlich eigene musikalische Erfahrung verfügt, holen den Sound der Band näher an die rockigen Titel der frühen 1980er Jahre heran.