
Leander Haußmann in Essen
Neu im Kino: Stasikomödie
Berlin, heute: Auf Drängen seiner Frau Corinna (Margarita Broich), eigentlich der ganzen Familie, und seiner Freunde hat sich der Erfolgsschriftsteller Ludger Fuchs (Jörg Schüttauf) dazu entschlossen, Einsicht in seine Stasi-Akte zu beantragen. Der populäre Romanautor („Der streunende Kater“) galt schließlich – als junger Mann in den 1980er Jahren - als Held des Widerstandes im Künstlermilieu des damals wie heute höchst angesagten Viertels Prenzlauer Berg. Die ganze hauptstädtische Bohème stand damals unter Beobachtung – da sollte doch auch bei Ludger Fuchs etwas zu finden sein.
In der dicken Akte des Archivars Dietrich (Tom Schilling), die Ludger daheim nicht ohne Stolz präsentiert, finden sich jede Menge mit Anmerkungen versehene Dokumente zu seinem Wohnumfeld im nur „LSD-Viertel“ genannten Areal zwischen der Lychener-, Schliemann- und Dunckerstraße, das mit Bars, Kneipen, Hinterhöfen, illegalen Ateliers und Clubs die Künstlerszene aus Ost und West anlockte. Wie den US-amerikanischen Beat-Generation-Dichter Allen Ginsberg für eine heimliche Dachboden-Lesung (gedreht im heute polnischen Breslau). Als Gattin Corinna einen höchst detailreich-pikanten Liebesbrief einer gewissen Natalie findet, versucht Ludger abzuwiegeln: „Das war doch vor deiner Zeit…“

Ein zweckloser Versuch, die weibliche Neugier ist geweckt - und die „Kundschafter“ des Ministeriums für Staatssicherheit haben alles minutiös aktenkundig gemacht. Ludger bleibt keine Wahl, als seine Mappe unter den Arm zu nehmen und den bohrenden Fragen der Familie zu entfliehen. Als er sich draußen auf der Straße eine Zigarette anzündet, erinnert er sich an den jungen Mann, der er einst war (David Kross): Mit dem Abschluss der zehntklassigen Oberschule in der Tasche und reichlich Flausen im Kopf hat er sich von Oberstleutnant Siemens (Henry Hübchen) für „Horch + Guck“ anwerben lassen, um die intern nur als „Neg-Dek“ bezeichnete „negativ-dekadente Szene Prenzlauer Berg“ im Auge zu behalten.
Ludger, seinerseits überwacht vom Pappnasen-Trio Bär (Christopher Nell), Wolke (Eric Spiering) und Nullgesicht (Karl Schaper), wird von seiner so verführerischen wie hedonistischen Nachbarin Natalie (die „Burg“-Schauspielerin Deleila Piasko) in die Bohème des Prenzlauer Bergs eingeführt. In der er sich bald so wohlfühlt, dass er den Auftrag seines Führungsoffiziers Siemens, die Szene nicht nur zu beobachten, sondern zu zersetzen, glatt aus den Augen verliert. Was dem einst überzeugten „Tschekisten“, aus dem inzwischen ein desillusionierter Alkoholiker geworden ist, nicht verborgen bleibt: Ludger soll Corinna (Antonia Bill) heiraten, um sie rund um die Uhr bespitzeln zu können.
Leander Haußmanns „Stasikomödie“ trägt zahlreiche autobiographische Züge wie diesen: Ludger, gerade erst eingezogen, täuscht beim Besuch seiner Nachbarin durch das sorgsame Drapieren intellektueller Bücher seine Belesenheit vor. Für szenische Petitessen sorgen großartige Schauspieler wie Carmen Maja Antoni, die für die Behörde das Hausbuch führt, Alexander Scheer als Travestiekünstler Michaela in der „Schoppenstube“ an der Schönhauser Allee, Matthias Mosbach als naiver Bohèmien Robert sowie Bernd Stegemann als Stasi-Chef Erich Mielke und Steffi Kühnert als dessen Sekretärin Gabi auf einer opulent-dekadenten Geburtstagsfeier in Rokoko-Kostümen (gedreht im thüringischen Barockschloss Crossen). Um nicht zu viel zu verraten: eine - leider zeitlose - Ampel-Szene mit ferngesteuerter Schaltung zur moralischen Prüfung der Fußgänger gehört zu meinen absoluten Favoriten.
Die am 12. Mai 2022 im Berliner Delphi uraufgeführte satirische Komödie bildet nach „Sonnenallee“ (1999) und „NVA“ (2005) den Schlussteil der DDR-Trilogie des Familienmenschen Leander Haußmann, der in einer kleinen (TV-) Szene seines 2010 verstorbenen Vaters Ezard Haußmann gedenkt. Für seinen nach eigenen Angaben persönlichsten Film konnte der einstige Bochumer Schauspielhaus-Intendant einen bis in kleinste Nebenrollen prominent und pointiert besetzten Cast vor der Kamera Michal Grabowskis versammeln, genannt seien etwa noch Regie-Kollege Detlev Buck als überambitionierter Volkspolizist, der die Wende nahtlos überlebt, Karsten Speck als Barkeeper und Katrin Angerer als autogrammjagender Fan des Erfolgsschriftstellers vierzig Jahre später.
Der knapp zweistündige, äußerst kurzweilige Film, der sich vor jeder billigen Schwarzweiß-Malerei der Marke „Hinterher ist man immer schlauer“ hütet, die skurrilen Methoden der Stasi-Überwachung („Verseuchung“ einer Wohnung mit Sex-Spuren) ebenso durch den Kakao zieht wie die Eitelkeit selbsternannter Kunsteliten, startet am 19. Mai 2022 in den Kinos. Bei uns zu sehen im Union Bochum, in der Schauburg Gelsenkirchen sowie in beiden Sälen der Essener Lichtburg. Dort ist am Donnerstag, 19. Mai 2022, um 14 Uhr Regisseur Leander Haußmann zu Gast.