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Schläger (Timothy Edlin, v.li.), Otze (Mathias Baresel) und Schatten (Yevhen Rakhmanin), im Hintergrund der musikalische Leiter Askan Geisler.

Eine wichtige, da etwas andere Wende-Geschichte

'Oper Otze Axt' am Musiktheater

„Auferstanden aus Ruinen“: Als Johannes R. Becher (Text) und Hanns Eisler (Musik) 1949 im Auftrag des Präsidenten Wilhelm Pieck die Nationalhymne herausbrachten, stand sie noch für den Anspruch auf ein besseres, weil gerechteres Deutschland. Was sich in den 1980er Jahren längst als Illusion herausgestellt hat.

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Im thüringischen Stotternheim hat der Bauernsohn Dieter „Otze“ Ehrlich (Mathias Baresel) weder Bock auf LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) noch VEB (Volkseigener Betrieb), kurz: keinen Bock auf normierten Alltag im realsozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat. Der Schlagzeuger gründet in einem Stall des elterlichen Hofes unweit der Bezirkshauptstadt Erfurt die Punkband „Schleimkeim“. An öffentliche Auftritte ist nicht zu denken, nur in kirchlichen und privaten Räumen darf gespielt werden.

Spezielle Beobachtung

Natürlich unter spezieller Beobachtung von Horch und Guck: „Durch zielgerichtete Werbungen unter Mitgliedern der westlich orientierten Musikgruppen und ihrer Anhängerschaft ist eine ständige operative Kontrolle zu sichern“ lautet eine Dienstanweisung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vom 15. Mai 1966. Die deutsche Wiedervereinigung war für Thomas Brasch und andere DDR-Intellektuelle, ob sie nun auf die andere Seite der Mauer gewechselt waren oder nicht, keine künstlerische Befreiung.

Und für Otze schon gar nicht, der zwar keinen Knast mehr befürchten musste, wohl aber die Psychiatrie: Die Schlüsselfigur der ostdeutschen Punkszene tötete seinen Vater, der nicht nur keinen Funken Verständnis zeigte für das lautstarke Aufbegehren seines Sohnes, sondern ihm wochenlang kein einziges Wort gönnte. Wie konnte es so weit kommen?

Umjubelte Premiere

Diese Frage stellt sich ein nicht nur der Lautstärke wegen (Ohrenstöpsel gibt’s an der Kasse) ungewöhnliches 90-minütiges Musiktheaterstück mit dem Titel „Oper Otze Axt“, das nach seiner Uraufführung am 14. Februar 2025 in den Kammerspielen des Staatstheaters Stuttgart am Sonntag (13.4.2025) im leider nicht annähernd ausverkauften Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier zu Recht heftig umjubelte Premiere feierte.

Mathias Baresel (l.), hier mit Clara Kreuzkamp und Johann Kalvelage, spielte bereits in der Darmstädter Uraufführung die Titelrolle.

Samt Adelsschlag des Wattenscheiders Wolfgang „Wölfi“ Wendland, der mit einer ganzen Fantruppe seiner Kultband „Die Kassierer“ aus der Nachbarstadt angereist war. Das Theaterkollektiv „Dritte Generation Ost“ um das Regie-Duo Romy Dins und Frithjof Gawenda nähert sich einer Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ an, ohne sie letztlich beantworten zu können.

Die Figuren

Da ist der verständnislose Vater im Blaumann (Thomas Brinkmann), der jede verbale Auseinandersetzung verweigert. Da ist die unbändige Wut Otzes, der diese an seinem Schlagzeug auslässt wie andere am Boxsack. Da ist die in Repression mündende Überwachung durch staatliche Organe: die Düsseldorferin Antonia Alessia Virginia Beeskow als für die Stasi tätiger IM (Inoffizieller Mitarbeiter). In der DDR waren alle Berufsbezeichnungen grundsätzlich männlich.

Und da ist nicht zuletzt die Drogenabhängigkeit und Schizophrenie Otzes: die Stimmen in seinem Kopf werden immer lauter. Schläger (Timothy Edlin), Tier (Frieda Gawenda), Magier (Almuth Herbst) und Schatten (Yevhen Rakhmanin), die auch den bei der Darmstädter Uraufführung noch extra besetzten Chor bilden, repräsentieren die Schizophrenie und dissoziative Persönlichkeit Otzes – und treiben Otze zum Vatermord.

Die Bühne des 2017 in Kassel gegründeten RHO-Kollektivs besteht aus drei beweglichen Metallkäfigen: einer für Otzes Herkunft, einer für Otzes Gegenwart als Punk (die blinkenden Neonröhren stehen für eine in der DDR weit verbreitete Foltermethode) und einer für die Sounddesignerin Antonia Alessia Virginia Beeskow. Dahinter auf leicht erhöhtem Podium die sechsköpfige Live-Instrumentalgruppe aus Streichern, Schlagzeug und Keyboard der Neuen Philharmonie Westfalen unter der Leitung des auch darstellerisch höchst aktiven Askan Geisler.

Glitzerjackett und Halskrause

„Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!“: Reinhold Limbergs FDJ-Kampflied „Jugend erwach!“ wird bei Otze zu „Bau ab!“, die Hochzeitsszene mit Almuth Herbst im güldenen Faltenrock und barocker Halskrause ist eine leider stimmige Realsatire auf die Wiedervereinigung und Verdis Gefangenenchor „Va, pensiero, sull'ali dorate“ aus „Nabucco“ wird mit Schweinegrunzen unterlegt: „Oper Otze Axt“ nimmt eindeutig Stellung. Otze hat jetzt ein Glitzerjackett an, aber auch die Halskrause um – das sind selbsterklärende Bilder, die ohne die sonst übliche Holzhammer-Dramaturgie auskommen.

Die durch die erneuten Proben in Gelsenkirchen offenbar weiter verdichtete Stückentwicklung hinterfragt unser (westdeutsches) Bild von der Nachwendezeit, wirbt um Verständnis und sucht nach neuen Ansätzen, um die politischen Zerwürfnisse, die sich auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung auf immer drastischere Art und Weise in der Jetzt-Zeit ereignen, zu erklären. Fast alle Beteiligten stammen aus den „neuen Bundesländern“: Sie verbinden ihr Projekt mit der Aufarbeitung persönlicher Erfahrungen und schaffen so eine besondere Perspektive auf die deutsch-deutsche Problematik vor dem Hintergrund der Wendejahre.

Karten unter musiktheater-im-revier.de oder Tel. 0209 – 4097200. Die weiteren Vorstellungen im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier (MiR): Samstag, 19. April 2025, 19 Uhr und Samstag, 26. April 2025, 19 Uhr.

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  • Samstag, 19. April 2025, um 19 Uhr
  • Samstag, 26. April 2025, um 19 Uhr
Dienstag, 15. April 2025 | Autor: Pitt Herrmann