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Mathilde und Claude.

Coline Serreaus Komödie in Eickel

Saint Jacques – Pilgern auf Französisch

Sonnenuntergang, idyllisches Bild. Ein Briefkasten wird von anonymer Hand bestückt. Schnitt. Postverteilzentrum. Hektische Betriebsamkeit inmitten gewaltiger Technik. Aber noch sind Menschen gefragt. Wie bei der Zustellung. In der Stadt, auf dem Land. Bei Wind und Wetter. Coline Serreau lässt ihre (Tragi-) Komödie Saint Jacques – Pilgern auf Französisch wie einen Werbefilm für die französische Post beginnen. Doch die Kuverts für drei Empfänger, die - obgleich Geschwister - unterschiedlicher nicht sein könnten, tragen Trauerrand. Sie überbringen die Nachricht vom Tod ihrer Mutter an Clara (Muriel Robin), Claude (Jean-Pierre Darroussin) und Pierre (Artus de Penguern) und eine Einladung zum Notar.

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Dort erfahren sie schier Unglaubliches: Das nicht unbeträchtliche Erbe von einer Million Euro in bar und einer Villa im Wert von 750.000 Euro wird erst dann ausbezahlt, wenn sich das Trio gemeinsam auf die 800 Kilometer lange Pilgerreise von Le-Puy-en-Velay nach Santiago de Compostela begibt, zu Fuß wohlgemerkt. Schlimmeres hätte nun wirklich nicht passieren können. Clara hat der Wahnsinn des Alltags fest im Griff, als Alleinversorgerin einer vierköpfigen Familie und total gestresste Lehrerin. Das Geld könnte sie schon gut gebrauchen, allein sie scheint unabkömmlich.

Was auch für ihren Bruder Pierre gilt, einen erfolgreichen Manager der France Telecom, der sich ein Leben ohne Handy und Chauffeur einfach nicht vorstellen kann. Und ohne Psychopharmaka, die auch die alkoholabhängige Gattin dieses egozentrischen Arschlochs nötig hätte. Für Claude, den Dritten im Bunde, scheint die Zeit irgendwie stehengeblieben zu sein. Zwar gescheiterte Existenz durch und durch, Sozialhilfeempfänger und schwerer Alkoholiker, vermag er es durch seine tollpatschige Hilflosigkeit doch immer wieder, die Frauen für sich einzunehmen, angefangen bei seiner süßen Tochter. Und die ist es schließlich auch, die ihn auf den rechten (Pilger-) Pfad lenkt.

Guy (Pascal Legitimus) ist nicht nur der Wächter über die Erfüllung der Testaments-Auflagen, sondern auch der Reiseleiter einer sehr illustren Wandergruppe, der mit Mathilde (Marie Bunel) eine Frau angehört, die nach absolvierter Chemotherapie ins Leben zurück will. Camille (Marie Kremer) und Elsa (Flore Vannier-Moreau) sind zwei junge Studentinnen, die die Pilgerung zum Abitur geschenkt bekommen haben, der junge Araber Said (Nicolas Cazale) ist der Liebe zu Ersterer dabei, und sein unbedarfter Cousin Ramzi (Aymen Saidi), weil er sich auf dem Weg nach Mekka wähnt (daher der französische Originaltitel „Saint Jacques ... la mecque“) und seine Mutter, die ihre letzten Ersparnisse für die Wanderung geopfert hat, erwartet, daß ihr Sohn – endlich - Lesen und Schreiben lernt.

So hat jeder sein Päckchen zu tragen, Guy schließlich die Untreue seiner Gattin, die seine häufige berufliche Abwesenheit ganz ungeniert zu Seitensprüngen nutzt. Aber auch zu schweres Gepäck, von dem sich etwa Camille und Pierre in einer der zahlreichen, wundervoll situationskomischen Szenen entledigen. Der Alltag lässt sich auch auf einer Pilgerung nicht ausblenden, zumal wenn in idyllischer Natur (tolle Landschaftsaufnahmen vor allem im französischen Teil der Strecke: Jean-Francois Robin) ab und an ein Handy-Baum für Kontakt zur Außenwelt sorgt (auch so eine groteske und dabei so realistische Szene brillanter, auf den Punkt gebrachter Situationskomik).

Es dauert eine Weile, bis alle begreifen, daß der Weg das Ziel ist. Freilich nicht in religiösem Sinne, da ist die 60jährige Autorin und Regisseurin Coline Serreau vor: „Vor allem der innere Weg, den die Figuren zurücklegen Das Wandern an sich verändert ihre Körper. Sie beginnen über ihre Gesundheit, über ihr Leben nachzudenken.“ Für die aufgeklärte Atheistin Clara etwa ist die Pilgerung ebenso eine Meditation zur Neufixierung ihres ganz persönlichen Stellenwertes im Leben wie für die krebskranke Mathilde, die dem psychisch kranken Pierre beibringt: „Ohne Medikamente geht es manchmal sogar leichter.“ Und ohne Egomanie auch, was für drei Geschwister spätestens nach ihrem Entschluß gilt, an der französisch-spanischen Grenze am Fuß der Pyrenäen mit der Gruppe weiterzumarschieren, obwohl bereits hier die Auflagen des Testamentes erfüllt sind. Clara gibt dem kleinen Ramzi Unterricht, Pierre lädt alle ins Nobelhotel ein, als ein Kloster nur die gutkatholischen Pilger, nicht aber die jungen Araber beherbergen will...

Am Ende findet jeder Pott seinen Deckel und wer meint, Kitsch gäbe es nur in amerikanischen Filmen, wird von Coline Serreau eines besseren belehrt. Ihre herzerfrischend leichte und solchermaßen typisch französische Komödie leistet sich nicht nur ein, um mit Theodor Fontane zu sprechen, klattriges Ende, sondern immer wieder zwischendurch ziemlich dick aufgetragene Ausflüge in (Alp-) Traumsequenzen.

Dennoch: Saint Jacques – Pilgern auf Französisch ist eine herrlich vergnügte Komödie, für die die Tochter des Theaterregisseurs Jean-Marie Serreau, die auch selbst mit großem Erfolg Komödien für die Bretter, die die Welt bedeuten, geschrieben hat (Hase, Hase), zwar nicht selbst nach Santiago de Compostela gepilgert, mit dem Filmteam aber immerhin einige Abschnitte gewandert ist. Für Coline Serreau ist ihr Film, der 2005 in Frankreich herauskam und zwei Jahre später auch in Deutschland ein großer Erfolg wurde, eine Allegorie auf die Gesellschaft: „Nicht nur die französische Gesellschaft. Man könnte sagen, dass es mit der Familie beginnt, dann das Land, danach ganz Europa und schließlich die Welt, die Kriege darin und so weiter.“

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  • Mittwoch, 29. Mai 2019, um 14:15 Uhr
Montag, 27. Mai 2019 | Autor: Pitt Herrmann