halloherne.de lokal, aktuell, online.
Hamlet: Sohn Hamlet und Mutter Gertrud: Sandra Hüller und Mercy Dorcas Otieno.

Eröffnet Berliner Theatertreffen

Sandra Hüller als Hamlet

In William Shakespeares „The Tragedy of Hamlet, Prince of Denmark“ von 1602 ist der alte König Hamlet von seinem Bruder Claudius (Bochum-Rückkehrer Stefan Hunstein) ermordet – und beerbt worden, nachdem der Täter die Witwe Gertrud (Mercy Dorcas Otieno) geheiratet und so den Thron erobert hat. Prinz Hamlet (Sandra Hüller), der Sohn des Vergifteten, wird vom Geist seines Vaters heimgesucht. Dieser fordert ihn auf, den Mord zu rächen. Ein vergleichsweise selbstbewusst-zielstrebiger Claudius, im weißen Pelz nobilitiert, spürt die Zerrissenheit Hamlets: dessen Freunde, die Höflinge Rosencrantz (Konstantin Bühler) und Guildenstern (Ulvi Teke), sollen ihn ebenso bespitzeln wie Ophelia (frappante Bühnenpräsenz der quirligen, kokett auftrumpfenden Gina Haller), die Tochter des Staatsrats Polonius (Bernd Rademacher). Als Letzterer zufällig der eigenen Lauschaktion zum Opfer fällt, schickt Claudius seinen Neffen nach England, um diesen dort umbringen zu lassen. Doch Hamlet kann sich seiner Häscher entledigen, kehrt nach Dänemark zurück. Wo er von Ophelias Bruder Laertes (Dominik Dos-Reis) zum Duell gefordert wird – das am Ende nur Tote hinterlässt. Als der norwegische Prinz Fortinbras (Gast aus Belgien: Mourade Zeguendi) nach Dänemark kommt, um alte Rechte einzufordern, hat er leichtes Spiel...

Anzeige: Herner Sparkasse Solit 2025
Hamlet: Vater Polonius und Sohn Laertes: Bernd Rademacher und Dominik Dos-Reis.

Johan Simons, der neue Intendant des Schauspielhauses Bochum, zeigt Mut, indem er sich mit den Säulenheiligen der westdeutschen Shakespeare-Stadt misst. Mit Peter Zadek, dem 1977 in der inzwischen abgerissenen Fabrik an der Haldenstraße eine fünfeinhalbstündige Jahrhundertinszenierung gelang mit Ulrich Wildgruber in der Titelrolle als kindlicher Narr und anarchistischer Clown und einer überragenden Rosel Zech in der Hosenrolle des Polonius. Mit Frank-Peter Steckel, der 1995 zum Ende seiner neunjährigen Intendanz den „Hamlet“ ungekürzt in sieben Stunden an der Königsallee herausbrachte mit dem frisch von der Schauspielschule gekommenen Martin Feifel als rotzfrechem jungen Rebell an der Seite des die Peymann-Ära inbegriffen besten Bochumer Ensembles der Nachkriegszeit: auf den Brettern Menschen statt Figuren. Mit Jan Klatas dreieinhalbstündigem, jugendbewegtem Körper-Kunst-Happening 2013 unter Einbeziehung der „Hamletmaschine“ Heiner Müllers: Dimitrij Schaads Bochumer Abschied in Ulrich Wildgrubers rotem Mantel mit Fellkragen und Sonnenblume im Knopfloch. Gar nicht gerechnet Thomas Limpinsels Improtheater „Hamlet als Serie“ 2002 in TV-Häppchen-Ästhetik sowie die Aufführung des Abschlussjahrgangs 2004 der Westfälischen Schauspielschule open air in der Sylvesterkapelle Weitmar mit Jörg Pohl als Hamlet.

Nun also, wie einst Sarah Bernhardt, Asta Nielson oder zuletzt Angela Winkler 1999 in Peter Zadeks in Straßburg entstandener Produktion für die Wiener Festwochen eine weibliche Protagonistin: Sandra Hüller. Die 1978 in Suhl geborene Berliner „Ernst Busch“-Absolventin und, vom guten Dutzend renommierter Filmpreise einmal abgesehen, gleich mehrfache „Schauspielerin des Jahres“ ist 2009, und damit schließt sich ein Kreis, mit dem Ulrich-Wildgruber-Preis ausgezeichnet worden. Sie ist, schlicht gekleidet in grauer Flanellhose und schwarzem Pullover, das völlig zu recht heftig umjubelte emotionale Zentrum einer trotz minimalistischer Ausstattung bei vollem Saallicht wuchtigen, zumindest am Anfang jeden Zynismus meidenden Inszenierung des wohl philosophischsten, aber auch, benannt nach seinem früh verstorbenen Sohn, persönlichsten Drama Shakespeares. Sandra Hüllers von Weltschmerz geprägter, aus persönlichem Leid melancholisch gewordener und so zerbrechlich wirkender Hamlet ist gefangen in einer unsäglichen Tradition der Rache, welche den Menschen von seiner ursprünglichen Natur abkoppelt.

Die Bühne von Johannes Schütz ist eine weiße Wanne. An Stahlträgern hängt unter dem Schnürboden eine massive, an Richard Serras Skulpturen im öffentlichen Raum erinnernde Kupferplatte und eine weiße „Mond“-Kugel: Beide drehen sich ständig umeinander wie die Pole Natur und Kultur. Am Rand der Wanne Dutzende Metallkugeln – und, eine Anspielung auf die Totengräberszene im fünften Akt, ein Totenschädel. Die mit Mikroports ausgestatteten Schauspieler nehmen nacheinander in der ersten Parkettreihe Platz: Sie bleiben in ihren Rollen, reagieren auf das Geschehen nicht als Zuschauer. Nur Ann Göbel als Totengräber bleibt ständig auf der Bühne präsent: eine Memento mori-Figur. Manches ist gewöhnungsbedürftig: die Alltagssprache der Übersetzung von Angela Schanelec und Jürgen Gosch, die bisweilen kaum erträgliche, selbst live erzeugte und elektronisch bearbeitete Geräuschkulisse der japanischen Klangkünstlerin Mieko Suzuki. Anderes gar überflüssig: die Zitate Heiner Müllers im 3. Akt („Ich will eine Frau sein. Ich will eine Maschine sein“), lakonische Verfremdungen wie Polonius' Ausspruch „Oh, ich bin umgebracht“, enervierende Brüllattacken bis hin zu Dominik Dos-Rais, der als Laertes wie einst das HB-Männchen an die Decke geht, schließlich der Handy-Gag von Fortinbras. Vieles aber überraschend neu, nicht zuletzt Bernd Rademachers staubtrockene Bürokraten-Komik und die von Jing Xiang verkörperte slapstickhafte Lazzi-Figur.

Premiere der zweieinhalbstündigen, betont gegen den Strich der Erwartungshaltung des Publikums besetzten Inszenierung des Hausherrn Johan Simons war am 15. Juni 2019. Ihr liegt eine Textfassung des belgischen Dramaturgen Jeroen Versteeles unter Verwendung einer Übersetzung des Ehepaars Gosch in direkter, moderner Sprache für eine Düsseldorfer Inszenierung sowie – erneut – Heiner Müllers „Hamletmaschine“ zugrunde. „Hamlet“ ist zum Berliner Theatertreffen 2020 eingeladen worden – übrigens als erste Bochumer Produktion seit zwanzig Jahren: Leander Haußmanns Ibsen-Inszenierung „John Gabriel Borkmann“ war im Jahr 2000 für das bedeutendste deutschsprachige Theaterfestival nominiert worden. Für Regisseur Johan Simons ist es bereits die siebte Auszeichnung einer Jury, die alljährlich die zehn bemerkenswertesten Produktionen in die ehemalige Freie Volksbühne der Hauptstadt holt.

Eröffnet wird das pandemiebedingt virtuelle Theatertreffen am Freitag, 1. Mai 2020, nach einem Grußwort von Festivalleiterin Yvonne Büdenhölzer mit Johan Simons‘ „Hamlet“-Inszenierung. Die im Rahmen der Reihe „Starke Stücke“ von 3sat realisierte Fernsehaufzeichnung steht ab 20 Uhr sowohl auf der Online-Plattform der Berliner Festspiele als auch auf nachtkritik.de sowie in der 3sat-Mediathek zum Abruf bereit und wird am Samstag, 2. Mai 2020, um 20.15 Uhr im 3sat-TV-Programm gesendet - erstmalig mit einer Audiodeskription für blinde und sehbehinderte Menschen und Untertiteln für taube und schwerhörige Menschen.

Vergangene Termine (2) anzeigen...
  • Freitag, 1. Mai 2020, um 20 Uhr
  • Samstag, 2. Mai 2020, um 20:15 Uhr
Dienstag, 28. April 2020 | Quelle: Pitt Herrmann