
Schillers Wilhelm Tell am WLT
In seinem letzten Drama, Wilhelm Tell, erweckt Friedrich Schiller 1804 den beinahe religiös grundierten Entstehungsmythos der Schweiz zu neuem Leben vor dem Hintergrund der Vernunfts-, Humanitäts- und Freiheitsideale der deutschen Klassik. Peter Adrian E. Krahl hat das neben Die Räuber berühmteste Stück des Goethe-Zeitgenossen jetzt am Westfälischen Landestheater (WLT) Castrop-Rauxel inszeniert – mit zwei starken Frauen im Mittelpunkt: Sabrina Sauer in der Titelrolle sowie Edda Lina Janz als Berta von Bruneck. Am Ende des 13. Jahrhunderts leben Fischer, Bauern und Jäger rund um den Vierwaldstättersee. Das einfache Volk hat sich im Gegensatz zum Adel nicht damit abgefunden, von der Habsburgischen Weltmacht fremdbestimmt zu werden. Mit dem Rütli-Schwur bekräftigen die Eidgenossen zwar ihren Willen zur Selbstbestimmung, nehmen das Heft des Handelns gegen Enteignung, Versklavung und Demütigung aber nicht selbst in die Hand. Es ist mit Wilhelm Tell eher ein Einzelgänger, vielleicht gar ein Außenseiter der Gesellschaft, der die bewusste Provokation des aus Wien eingesetzten Hermann Geßler (Julius Schleheck) annimmt und die Verbeugung vor dem Hut des Reichsvogtes verweigert. Zur unmenschlichen Strafe gezwungen, mit seiner Armbrust einen Apfel vom Kopf seines eigenen Knaben Walther zu schießen, verhehlt der erfolgreiche Schütze nicht, dass der zweite Pfeil im Köcher dem Habsburger gegolten hätte. Tell wird verhaftet, kann jedoch fliehen und tötet Geßler in der hohlen Gasse, durch die der Reichsvogt kommen muss...
Wie sich heute mit diesem Mythos auseinandersetzen, der ja bei Friedrich Schiller keinen Aufstand eines unterdrückten Volkes zum Inhalt hat, sondern einen nachträglich zur nationalen Heldentat verklärten Racheakt eines Einzelnen, der eigentlich nur in Ruhe seinen Geschäften nachgehen will und sich zuvor weder für das Gemeinwohl noch gar für die große Politik interessiert hat? Stefan Bachmann, Zürcher des Jahrgangs 1966 und Intendant des Schauspiel Köln, hat Wilhelm Tell 2017 in Koproduktion mit Basel sehr streng, geradezu choreographisch inszeniert. Dem sprachlichen Korsett, das reine Männer-Ensemble um Bruno Cathomas in der Titelrolle deklamierte durchgängig die fünfhebigen Jamben des Schillerschen Blankverses, entsprach das physische Korsett der kreuzförmigen Bühne des Ausstatters Olaf Altmann.

Am Castrop-Rauxeler Europaplatz dagegen wuselt eine vom Ausstatter Laurentiu Tuturuga einheitlich-hinterwäldnerisch eingekleidete fünfköpfige, zu Saisonbeginn völlig neu formierte Kinder- und Jugendtheatertruppe am WLT knapp achtzig Minuten über ein ständig neu formiertes alpines Wegesystem. Der ehemalige langjährige WLT-Dramaturg Peter Adrian E. Krahl (The Golden Castle) hat sich für eine stark entschlackte Prosa-Fassung für alle ab 13 Jahren entschieden, bei der alle Schauspieler – bisweilen auch chorisch – die Rolle eines Erzählers übernehmen. Ständig wechselt die Perspektive, schlüpfen die Darsteller auf offener Bühne in neue Kostüme und Rollen: das Tempo wird von einem spielfreudigen Ensemble, noch zu nennen Adrian Kraege und Felix Zimmermann, hochgehalten. Der Fokus aber liegt auf der weiblichen Besetzung, beim Adel wie beim Volk: Während Ulrich von Rudenz auf die Heimat pfeift und von der großen, weiten Habsburger Welt träumt, in der bekanntlich die Sonne nicht untergeht, offenbart Berta von Bruneck Empathie für ihre unterdrückten Landsleute. Die, so Krahls Interpretation des Rütli-Schwurs, der hier wie eine vorweggenommene Halloween-Szene wirkt, von Revolution eigentlich nichts wissen wollen, sondern sich nur des Althergebrachten vergewissern. Und Wilhelm Tell? Sabrina Sauer, nun fest im WLT-Ensemble, zeigt einen ganz unheldischen Tyrannenmörder, der in einer stummen Szene dem hingefallenen Reichsvogt sogar aufhelfen will, was dieser jedoch aus Stolz – und offenbar zugleich auch aus Angst – zurückweist. Der Castrop-Rauxeler Tell entpuppt sich als so selbstbewusster wie hilfsbereiter Zeitgenosse, der stets bereit ist, einem in Not geratenen Mitmenschen beizustehen. Wilhelm Tell steht wieder am Mittwoch, 31. Oktober 2018 und am Montag, 5. November 2018 im WLT-Studio sowie am 26. März 2019 in der Stadthalle Castrop-Rauxel auf dem Spielplan, Karten unter westfaelisches-landestheater.de oder Tel 02305/97 80 20.
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- Mittwoch, 31. Oktober 2018, um 9 Uhr
- Montag, 5. November 2018, um 9 Uhr