
Vice – Der zweite Mann
Die Ende Dezember 2018 in den USA herausgekommene und im Februar 2019 auf der 69. Berlinale außer Konkurrenz gezeigte tragikomische Satire Vice von Adam McKay, in der Titelrolle ein ungemein leinwandpräsenter Christian Bale als ehemaliger US-Vizepräsident Dick Cheney, startet bundesweit am 21. Februar 2019 und ist unter anderem im Casablanca Bochum zu sehen, in der englischsprachigen Originalfassung mit deutschen Untertiteln im Capitol Bochum.
Es ist ja nicht so, dass die von 2001 bis 2009 währende achtjährige Regentschaft des US-Präsidenten George W. Bush, in der die Terroranschläge vom 11. September 2001 ebenso fallen wie der mit gefälschten Nachrichtendienst-Informationen begründete Irak-Krieg der Amerikaner und ihrer westlichen Verbündeten, Neuland fürs politische US-Kino wäre. Erinnert sei etwa an Michael Moores Fahrenheit 9/11 von 2004 oder an The Unknown Known von Errol Morris aus dem Jahr 2013.
McKay, der 2015 mit The Big Short bereits einen neuen, sehr ironisch-komödiantischen Ton in den politischen Film gebracht hat, setzt diesen Weg nun hochkarätig besetzt mit Amy Adams, Steve Carell und Sam Rockwell fort. So ist Vice – Der zweite Mann nicht nur zeitgeschichtlich interessant, obwohl bei diesem mit zwei Stunden und 14 Minuten überlangen fiktionalen Biopic vieles reine Spekulation bleibt, sondern auch ästhetisch: Mc Kay behauptet, dass der mächtigste US-Vizepräsident aller Zeiten ebenso gut als schwerreicher Kriegsindustrie-Manager und passionierter Hundezüchter sein Leben hätte verbringen können. Weshalb der Film zwei Teile hat – und zwei Abspänne. Aber das ist beinahe schon zu viel verraten. Gänzlich gespoilert aber wäre, den überraschenden Erzähler preiszugeben...
Alles beginnt 1953 in Casper, Wyoming. Und mündet, so der harte Schnitt im Vorspann, am 11. September 2001 in New York und Washington. Dick Cheney (Christian Bale) ist mit seiner Highschool-Liebe Lynne Vincent (ehrgeizige Einser-Schülerin und erfolgreiche Schriftstellerin: Amy Adams) offenbar zu glücklich: er fliegt, als faule Socke und hemmungsloser Säufer, von der Renommier-Uni Yale und wird mehrfach wegen Trunkenheit am Steuer eingebuchtet. Er arbeitet hart und in lebensgefährlicher Höhe – als Techniker auf Hochleitungsmasten. Als Lynne ihn 'mal wieder aus dem Knast auslösen muss, stellt ihn die erfolgreiche Studentin vor die Wahl: entweder reißt er sich zusammen oder sie verlässt ihn.
Washington 1968. Dick Cheney hat die Kurve gekriegt, ist Praktikant bei Donald Rumsfeld (gewiefter Stratege: Steve Carell). Er ist sich nicht zu schade, um als Laufbursche der Mächtigen reibungslos zu funktionieren. Sein klammheimlicher Aufstieg zum mächtigsten Bürokraten in der US-Administration Richard Nixons vollzieht sich unterhalb des Radars der öffentlichen Wahrnehmung. Als die Amerikaner Kambodscha bombardieren und auch von ihren Verbündeten gescholten werden, stellt er Rumsfeld die Frage: „Woran glauben wir?“ Der Verteidigungsminister bleibt nicht nur die Antwort schuldig, sondern lacht sich halb tot über die Frage. Dabei hat Cheney, der sich inzwischen den Republikanern angeschlossen hat, sie nur rhetorisch gemeint: für ihn besteht Politik aus pragmatischem Handeln ausschließlich zum eigenen Nutzen.
Maryland 1973. Cheney ist, als Washington-Insider mit dem besten Netzwerk, im Finanzbusiness sehr erfolgreich. Als begeisterter Fliegenfischer genießt er die Ruhe abseits der politischen Hektik. Präsident Nixon bietet ihm den Botschafter-Posten bei der Europäischen Union an. Cheney, der alle Hände damit zu tun hat, polizeiliche Ermittlungen zum Tod seiner Schwiegermutter abzuwürgen, lehnt dankend ab: Brüssel wäre für ihn ein Abstellgleis. Der Watergate-Skandal wird zum Wendepunkt: Nixon tritt zurück und der junge, unerfahrene George W. Bush (Charme des Unschuldslamms: Sam Rockwell) tritt seine Nachfolge an. Bush holt Cheney als jüngsten Stabchef der US-Geschichte ins Weiße Haus. Und der beginnt sogleich, seine Machtposition zu verbreitern: als erstes holt er seinen Mentor Rumsfeld aus Europa nach Washington zurück. Dann der Rückschlag: der Erdnussfarmer Jimmy Carter gewinnt die Wahl für die Demokraten.
1980. Dick Cheney kandidiert unter seinem Wahlspruch „Make America Great Again“ für den Kongress. Nach einem Herzinfarkt macht seine Gattin Lynne für ihn Wahlkampf – mit überragendem Erfolg. Und das, obwohl er sich gegen Lynnes Rat hinter seine lesbische Tochter Mary (Alison Pill) gestellt hat. Dicks Familiensinn siegte über mögliche Probleme in der konservativen Wählerschaft. Später wird seine jüngere Tochter Liz (Lily Rabe) in Wyoming selbst in die Politik gehen – und sich vom Privatleben ihrer Schwester ausdrücklich distanzieren. Die Option, sich als millionenschwerer Halliburton-Chef aus der Politik zurückzuziehen und preisgekrönte Golden Retriever zu züchten, ist nur eine von zahlreichen Volten des Regisseurs Adam McKay.
Washington 2001. George W. Bush hat die Wahl gegen Clintons Vize Al Gore gewonnen und präsentiert Dick Cheney das Oval Office auf dem Silbertablett. Die Terroranschläge am 11. September sind eine Bewährungsprobe, die der Vize mit Bravour besteht...
„Vice – Der zweite Mann“ ist ein politischer Film, der einen erschreckenden Blick hinter die Kulissen machtgieriger Polit-Profis, die über Leichen gehen, wirft. Und das mit dem moralinsauren Furor eines Michael Moore. Der Film ist aber gleichzeitig auch augenzwinkernd-humorige Realsatire und, bezogen auf den blumig-poetischen Off-Kommentar und die Durchbrechung der vierten Wand, Comedy reinsten Wassers. Ein Tipp: beim zweiten Nachspann nicht die Geduld verlieren. Da kommt noch was! Bei den „Golden Globes“ wurde Christian Bale als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet, ebenso bei den „Critic's Choice Awards“ der US-Filmkritiker, die zudem zwei Ausstattungs-Preise vergaben. „Vice“ ist für acht „Oscars“ nominiert.