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Eine prekäre Kindheit auf dem Dorf: Amelie (Lotte Becker), Eddy, der junge Édouard (Pit Prager) und Vincent (Mischa Warken, v. li.).

Französische Sozialpolitik am Schauspielhaus Bo

Wer hat meinen Vater umgebracht

Reichlich Theaternebel wabert über die Sitzreihen der Bochumer Kammerspiele. Wie Kohlenstaub einst unter Tage. Der Bergbau hierzulande ist tot, der Berg aber lebt weiter. Eine ganze Lüfter-Batterie rotiert auf Lan Ang Phams Bühne zu Beginn der einhundertminütigen Adaption des 2018 erschienenen Romans „Qui a tué mon père“ von Édouard Louis durch die Bochumer Dramaturgin Jasmin Maghames und den jungen polnischen, seit 2016 in Holland lebenden Theatermacher Mateusz Staniak, der mit „Wer hat meinen Vater umgebracht“ sein Regiedebüt in Deutschland gibt. Der angekündigte Ruhrgebiets-Bezug beschränkt sich auf die Ausstattung: Rußverschmierte Kumpel mit Helmlampen schaufeln Kohlebrocken und die sonst für kluge philosophische Bemerkungen zuständige Dragqueen Celine Dijon (empathischer Vermittler: Alexander Wertmann) wechselt 'mal eben per Leiter die Sohle.

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Édouard Louis, am 30. Oktober 1992 in Hallencourt geboren, erzählt in seinem autobiographischen Debütroman „Das Ende von Eddy“ von seiner Kindheit in einem kleinen nordfranzösischen Dorf und seiner Flucht aus prekärsten Verhältnissen, die bereits mit dem Besuch des Lycée in Amiens begann. Das Buch sorgte 2015 für großes Aufsehen, wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. In seinem zweiten, ebenfalls autobiographischen Roman, „Im Herzen der Gewalt“ (2016), erweitert der französische Autor seinen Gegenstand, erzählt von Begehren, Migration, Homophobie und Rassismus und macht dabei unsichtbare Formen der Gewalt sichtbar. Im Sommer 2018, als Samuel Fischer-Gastprofessor an der Freien Universität Berlin, prägt er den Begriff der „konfrontativen Literatur“: „Literatur muss kämpfen, für all' jene, die selbst nicht kämpfen können“. Louis begleitet parallel die Adaption seines zweiten Romans von Thomas Ostermeier für dessen Schaubühne am Lehniner Platz.

Ratschläge von der Dragqueen (Alexander Wertmann) nimmt Eddy Bellegueule, der spätere Schriftsteller Édouard Louis (Mourad Baaiz, v. li.), nicht immer an.

„An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung“, lautet der erste Satz in Édouard Louis‘ Debüt. In seinem dritten Roman „Wer hat meinen Vater umgebracht“ (2018) sieht er das Verhältnis zu seinem Vater differenzierter. Er basiert auf dem Kommentar „Why My Father Votes for Le Pen“, den Louis im Mai 2017 für die „New York Times“ anlässlich der Präsidentschaftswahl in Frankreich verfasst hat. In diesem schildert er, warum sich sein aus dem Arbeitermilieu stammender Vater nicht länger von den linken Parteien repräsentiert fühlt und sich dem rechten „Front National“ zugewandt hat. Auf der einen Seite eine politisch-moralische Abrechnung mit François Hollande, Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und Emmanuel Macron.

Auf der anderen Seite eine Hommage an seinen auch liebevollen und fürsorglichen Vater, dessen Wutausbrüche er verstehen gelernt hat als Reaktionen eigener Ohnmacht: Nach einem Arbeitsunfall von Rückenschmerzen geplagt musste er prekäre körperliche Arbeit verrichten, um seinen Anspruch auf Sozialleistungen nicht zu verlieren. Louis (als Kind: Pit Prager) erinnert sich vor allem an den Wunsch seines Vaters, dass es seinen Nachkommen gelingen möge, die einfachen Verhältnisse zu überwinden. Was zumindest Édouard Louis geschafft hat, die Bücher des seit geraumer Zeit in Paris lebenden Autors und „Gelbwesten“-Aktivisten erscheinen inzwischen in dreißig Ländern.

Mourad Baaiz tigert als dauererregter Louis die Rampe entlang, erinnert sich an aufregende Autofahrten mit seinem Vater (stumme Rolle im Rollstuhl: Christian Paul alternierend mit Christian Scheid), an die ängstliche Mutter (fürsorglich-liebevoll: Veronika Nickl), welche sich bei solchen Gelegenheiten stets darüber beklagte, ein Kind geheiratet zu haben. Und an seinen älteren, versoffenen Bruder Vincent (Mischa Warken), dem die Mutter heimlich Geld zusteckt gegen den Willen ihres Gatten. Der als Diabetiker mit Herzschwäche nicht mehr ohne Atemgerät leben kann.

Entgegen sie offenbar verletztende Äußerungen ihres Sohnes Édouard in seinem literarischen Debüt „En finir avec Eddy Bellegueule“ hat die Mutter auch als sog. einfache Arbeiterfrau noch Erwartungen an ihr Leben - und sich daher von ihrem zunehmend verwahrlosenden Gatten getrennt. Was ihr nun von Édouard lautstark zum Vorwurf gemacht wird, der sich im weiteren Verlauf des Stücks mit der französischen Sozialpolitik wie in einem Volkshochschul-Kurz dozierend auseinandersetzt: „Papa hat recht: Was wir brauchen, ist eine Revolution.“

Wer sich solchermaßen belehren lassen möchte, hat dazu wieder am 1., 12. und 26. November 2021 sowie am 28. Dezember 2021 in den Bochumer Kammerspielen Gelegenheit, Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel 0234 – 3333 5555.

Montag, 1. November 2021 | Autor: Pitt Herrmann