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Starke Persönlichkeiten im blinden Fleck der Gesellschaft: Die Putzfrauen des französischen Fährhafens Ouistreham in Caen leisten täglich unentbehrliche, harte Arbeit und bleiben ungesehen. Die Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche, vorn) schleust sich heimlich bei ihnen ein, um ihre Geschichte zu erzählen.

Neu im Kino

Wie im echten Leben

Die renommierte Pariser Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche) beginnt für ihren nächsten Roman ein Doppelleben auf Zeit. In der nordfranzösischen Hafenstadt Caen, wo das Wetter launisch ist und das Leben rau, will sie eintauchen in den Alltag von Menschen, die Toiletten schrubben, Betten beziehen und Pizza ausliefern, kurz: ins prekäre Dasein zwischen Plackerei und Geldknappheit.

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Sie meldet sich mit einem erfundenen Lebenslauf im Jobcenter: 23 Jahre lang sei sie Hausfrau und Buchhalterin ihres Mannes gewesen, der sie nun für eine Jüngere verlassen habe. Sie verfüge weder über nennenswerte Erfahrungen noch über Referenzen und nehme daher jede Stelle an – egal wie schmutzig sie sich die Hände machen müsse. Marianne wird von Cédric (Didier Pupin) angesprochen, der ebenfalls Arbeit sucht. Ihrem ersten Kontakt zur Zielgruppe folgt mit der blutjungen Marilou (Léa Carne) ein wichtiger zweiter – beim Einführungskurs mit der nur „Biest“ genannten Reinigungsmaschine.

Zwei gegensätzliche Frauen in unerwartet tiefer Verbundenheit: Die beiden Arbeitskolleginnen Christèle (Hélène Lambert) und Marianne (Juliette Binoche) gönnen sich wertvolle freie Stunden am Meer.

Schon der erste Job als Putzfrau in einer Mobilhome-Siedlung erweist sich als Glücksfall – extreme Schinderei an der Seite Marilous und blöde Sprüche vom Chef bei höchst unfairer Bezahlung von nicht einmal acht Euro pro Stunde. Beide schließen sich bald einer zwölfköpfigen Reinigungstruppe auf Fährschiffen an: innerhalb von 90 Minuten müssen sämtliche Kabinen gereinigt werden, bleiben zu zweit vier Minuten für Betten und Toilette. Marianne erfährt eine geradezu überwältigende Unterstützung der stahlharten weiblichen Putzprofis an ihrer Seite, die ihr sogar ein klappriges Auto zur nächtlichen Fahrt in den Fährhafen Ouistreham leihen.

Beim Bowling im Kreis der Kolleginnen freundet sie sich besonders mit der taffen Christèle (Hélène Lambert) an, die sich allein mit drei Kindern durchs Leben schlägt. Zu viert geht es einen Tag ans Meer, ihre drei Kinder basteln zum Geburtstag eine Kette aus Kleeblättern und singen ein Ständchen. Einmal schaffen sie den Absprung von der Fähre nicht, weil Marilou ihre Jacke vergessen hat – und schippern über den Kanal nach England. Soviel Spaß neben harter körperlicher Arbeit hat Marianne, die das Erlebte nach der Schicht in ihren Laptop hämmert, in ihrer Pariser Künstlerblase nicht.

Mit Christèle, Marilou und Justine (Emily Madeleine) verbindet Marianne bald eine so tiefe Freundschaft, dass ihre wahre Identität zum größten Problem wird. Mit allen Tricks versucht sie, diese zu verbergen. Doch eines Tages wird sie von Pariser Freunden auf dem Fährschiff erkannt. Marianne hat inzwischen genug Material für ihr Buch zusammen, doch so einfach ist es nicht, gegenüber den an ihr Herz gewachsenen Menschen mit der Wahrheit herauszurücken…

„Wie im echten Leben“ ist nicht nur ein über 106 Minuten zutiefst berührendes Kinoerlebnis, sondern eine wahre Geschichte, erzählt von der Journalistin Florence Aubenas in ihrem Sachbuch „Le Quai de Ouistreham“. In seinem dritten Kinofilm als Regisseur zeigt sich Emmanuel Carrère, anders als Günter Wallraff in den 1980er Jahren („Ganz unten“), nicht an sozialkritischen oder politischen Aspekten dieser spektakulären Undercover-Aktion interessiert, sondern fokussiert sich ganz auf die herzliche Solidargemeinschaft von Frauen am Rande des Existenzminimums.

An der Seite der Oscar-Preisträgerin Juliette Binoche agiert ein umwerfend humorvolles Laien-Ensemble, was man besonders bei der herausragenden Hélène Lambert gar nicht glauben kann. Zwei Figuren verkörpern sich tatsächlich selbst: Evelyne Porée als Fährarbeiterin Nadège und Emily Madeleine als Justine, die ihre Abschiedsparty feiert. Der einzige männliche Protagonist, Didier Pupin, arbeitet im wirklichen Leben in der französischen Ladenkette Saint-Maclou, die sich auf Fußböden, Wände und Fenster spezialisiert hat.

„Wie im echten Leben“, am 7. Juli 2021 in Cannes zur Eröffnung der Sektion Quinzaine des Réalisateurs uraufgeführt, startet am 30. Juni 2022 in den Kinos, in unserer Region u.a. zu sehen im Casablanca Bochum, im Eulenspiegel Essen und im Bambi Düsseldorf.

Mittwoch, 29. Juni 2022 | Autor: Pitt Herrmann