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Grips-Theater: Zoff auf dem Campingplatz. v.l. Esther Agricola, Lorris Andre Blazejewski, Rene Schubert, Nizam Namidar und Paul Jumnin Hoffmann.

„Ein Fest bei Baba Dengiz“ auf Grips online

Wir sind Kinder einer Erde

„Wir sind Kinder einer Erde, die genug für alle hat. / Doch zu viele habe Hunger und zu wenige sind satt. / Einer prasst, die andern zahlen, das war bisher immer gleich. / Nur weil viele Länder arm sind, sind die reichen Länder reich.“ Das Berliner Grips-Theater lebt – und mit solchen guten alten Liedern aus der Feder von Volker Ludwig, Michael Brandt und Birger Heymann schon gar. Es stammt aus dem Stück Ein Fest bei Papadakis, das 1973 Uraufführung feierte und in die ganze Welt exportiert worden ist. Vierzig Jahre später war es Zeit für eine Überarbeitung, die Volker Ludwig zusammen mit dem Regisseur Yüksel Yolcu realisiert hat: Ein Fest bei Baba Dengiz, am 17. April 2015 am Hansaplatz herausgekommen, ist noch bis zum 15. Mai 2020 (17:55 Uhr) kostenlos auf grips.online/sehen kostenlos abrufbar.

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Blauer Himmel, zwei Bäume, in der Mitte ein gelbes Zwei-Mann-Zelt, Papierkörbe, einer von ihnen steht an einem Lautsprecher-Mast linkerhand mitten im Parkett (Ausstattung: Ulv Jakobsen): Ein Campingplatz irgendwo in Brandenburg, nicht weit weg von Berlin. „Baba, sprich bitte deutsch, die Leute gucken schon alle“ sagt ein Junge zu seinem Vater. Und setzt mit leicht unwilligem Ton, aber doch respektvoll nach: „Baba, du lebst schon seit dreißig Jahren in Deutschland und sprichst schlechteres Deutsch als ich.“

„Papa“ Achim Müller (Rene Schubert) zeltet seit Jahren an derselben Stelle – B 17. Jetzt will er mit seinen beiden Kindern Leon (Lorris Andre Blazejewski) und Sophie (Esther Agricola) ein wohlverdientes Wochenende in idyllischer Natur verleben und erlebt eine böse Überraschung: auf „seinem“ Platz steht bereits ein Zelt. Offenbar von Ausländern errichtet, obwohl der fremde Junge, den Tochter Sophie sogleich als ihren Klassenkameraden Tolga (Paul Jumin Hoffmann) freudig begrüßt, exakt das gleiche T-Shirt trägt wie der eigene Sprössling.

Tolga hat seinen Vater Ahmed „Baba“ Dengiz (Nizam Namidar) zum ersten Mal überreden können, am Wochenende auch campen zu gehen. Und jetzt haben sie ihr Zelt ausgerechnet auf Müllers angestammten Platz aufgestellt! Selbst hier im Osten ist man nicht mehr vor Türken sicher, empört sich Herr Müller, dem die entspannte Wochenendstimmung gründlich verhagelt ist: „Wir sind doch nicht das Sozialamt für die ganze Welt!“ Er hat grundsätzlich nichts gegen Ausländer, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Man hat schließlich so seine Erfahrungen gemacht - oder zumindest von solchen anderer am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder aus der Zeitung erfahren.

„Das ist ja wie in der Steinzeit“ meckert Sophie: Während sich die Kinder unbefangen beschnuppern, miteinander spielen und sich beim gemeinsamen Ärger über fehlenden Handy-Empfang näher kennenlernen, streiten die Väter: Drei Tage das anatolische „Urwaldgejaule“ anzuhören, ertrage er nicht, meint Papa Müller und hält, Leon noch fest an seiner Seite, mit deutschem Liedgut lautstark dagegen. Ihre gegenseitigen Anwürfe sind voller Misstrauen, das rasch in Verachtung ausschlägt: Von Achims alberner Verweigerung, den Dosenöffner auszuleihen, bis zur provokant gemeinten Tanzdarbietung Ahmeds haut Volker Ludwig kräftig auf die Pauke tradierter Vorurteile.

Und immer ist es der Deutsche, der provoziert und die nächste Stufe des Eskalations-Rakete zündet bis hin zur veritablen Prügelei in Slowmotion unter Rotlicht. Find' ich reichlich übertrieben, aber das junge Publikum ab acht Jahren geht in der von mir besuchten vormittäglichen Schulaufführung von Anfang an voll mit. Was auch damit zusammenhängt, dass der Ahmed-Darsteller Nizam Namidar zahlreiche Sätze auf Türkisch spricht, die im Parkett ganz selbstverständlich sogleich von zweisprachig aufgewachsenen Kindern für ihre Nachbarn übersetzt werden. Ein vermutlich gar nicht geplanter (Neben-) Effekt, den man für künftige Produktionen bewusst einsetzen sollte: so sind es hier einmal die Kids mit Migrationshintergrund, die ihren „biodeutschen“ Nachbarn aus der Bredouille des Nicht-Verstehens helfen können.

Wie Kapitalismus funktioniert und wie schnell die Kinder auf seiner Klaviatur spielen lernen, zeigt die Begegnung mit Violeta Petrovic (beeindruckend: Anke Retzlaff als Gast), einer 12-jährigen Romni, die für den Platzwart die Anlage sauber hält – ganz offenbar Kinderarbeit ohne Steuerkarte. Was Papa Müller erbost zum Telefonhörer greifen lässt, während die Kids die spindeldürre „Zigeunerin“ als Ausbeutungsobjekt benutzen: Leon hat von Papa Achim vier Euro fürs Autowaschen bekommen, Tolga erledigt den Job für drei Euro und Violeta schließlich ist bereit, ihn für nur zwei Euro auszuführen.

Kein Mensch ist illegal? Die Sache eskaliert endgültig, als Violeta, welche die serbische Roma-Siedlung, aus der die Minderjährige nach Deutschland geflohen ist, nicht als ihr Zuhause ansieht, ihren Zeltplatzjob verliert und, sollte Papa Müller tatsächlich die Polizei einschalten, auch noch von Ausweisung bedroht ist. Doch der torkelt nach einem ausgiebigen Umtrunk mit Landsleuten atemlos durch die Nacht und landet im falschen Zelt...

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Wie Papa Müller und Baba Dengiz mit ihren Kindern samt Violeta, für die doch ein Plätzchen in Sophies und Tolgas Schulklasse möglich sein sollte, nach gut neunzig turbulent inszenierten Minuten ein rauschendes, aber nicht berauschendes Fest feiern und zum Schluss sogar zusammen mit dem begeisterten Publikum besagtes Lied Wir sind Kinder einer Erde anstimmen, davon erzählt das turbulent inszenierte Theaterstück für alle ab acht Jahren im Online-Portal des Grips-Theaters. Und schon ‘mal zum Vormerken: am 17. und 18. Mai 2020 gibt’s auf der digitalen Feuilleton-Plattform des Theatermagazins nachtkritik.de „den“ Klassiker des Grips-Theaters überhaupt, das Berlin-Musical „Linie 1“ für 48 Stunden mit Live-Chat und einem Video mit Volker Ludwig!

Mittwoch, 13. Mai 2020 | Quelle: Pitt Herrmann